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Der Weg,

den uns Gott beschert hat

 

 

 

 

Auf der Suche nach dem Grab meines

Urgroßvaters Nikolaus Geiger

 

Roland Geiger

 

 

Einleitung

      „Nikolaus Geiger“ - das war für mich immer nur ein Name gewesen - am Kriegerdenkmal in Baltersweiler und auf der Tafel der Gefallenen des Ersten Weltkriegs im Seitenschiff des St. Wendeler Doms.

      Früher hatte ich geglaubt, er sei der erste Gefallene der Pfarrei gewesen, und das hatte immer etwas besonderes gehabt, ohne daß ich mir bewußt war, wie zynisch dieser Gedanke eigentlich war (davon abgesehen, daß er nicht der erste war, aber doch zu den ersten Gefallenen der Pfarrei gehörte). Später, als ich älter und mir bewußt wurde, daß Krieg nicht nur mit Schießen und Treffen, sondern auch mit Getroffenwerden und Sterben zu tun hat, dachte ich oft, daß er wie Zahllose andere wohl nicht mehr als Kanonenfutter gewesen sein mag. Er war ja kein Berufsoldat gewesen, sondern Hüttenarbeiter, der nicht lange nach Kriegsbeginn irgendwo in Frankreich gestorben war. Damals machte ich mir auch noch keine Gedanken um seine Hinterbliebenen. Und daß er Opa Walters Vater und daß Oma Lisa seine Witwe gewesen war, über vierzig Jahre lang bis zu ihrem Tod in den Sechzigern, das war mir vorher nie bewußt gewesen.

      Ich begann erst eine Beziehung zu ihm aufzubauen, als ich mich näher mit ihm beschäftigte. So war es schon eine eigenartige Sache, als ich schließlich im August 2002 vor der Metallplatte stand, die u.a. seinen Namen trägt.

Nikolaus wird am 5. April 1884 in Grügelborn geboren. Seine Eltern sind Jakob Geiger aus Freisen und dessen Ehefrau Katharina Weigerding. Sie wohnen in Grügelborn, wo alle neun Kinder zur Welt kommen. Nikolaus ist der Älteste. Wie sein Vater verdient er seine Brötchen er als Arbeiter im Neunkircher Eisenwerk. Wenn das flüssige Roheisen vom Hochofen zur weiteren Verarbeitung transportiert wird, steht er hinten oder vorn auf dem Zug und gibt mit einem Horn Signale, damit auf der 600 Meter langen Schienentrasse kein Unglück geschieht. Er ist trotz seines Nachnamens der einzige im ganzen Klan, der weiß, wie man ein Musikinstrument bedient. Nun ja, vielleicht außer mir und meinem Cousin Markus.

      Am 4. Juli 1908 heiratet er die gleichaltrige Elisabeth Kirz und wohnt mit ihr in ihrem Elternhaus in Baltersweiler. Dort kommen ihre vier Kinder zur Welt: die beiden Töchter Katharina und Johanna und die beiden Söhne Walter - mein Großvater - und Erich. Die Geburt seines jüngsten Sohnes im Mai 1914 erlebt Nikolaus noch zu Hause. Nicht ganz vier Monate später ist er tot, vermißt auf den Schlachtfeldern Frankreichs.

      Für die Witwe Elisabeth und ihre vier Kinder beginnen schwere Jahre. Ihre Mutter Rosina geb. Weiss ist vor elf Jahren gestorben. Zwei Jahre zuvor ist sie mit ihrem Vater Franz Kirtz einen sog. Alimentenvertrag eingegangen. D.h. sie hat für den vergleichsweise geringen Betrag von 6.000 Mark dessen gesamten Besitz übernommen - das Haus, alle Grundstücke, die im Haus befindlichen Haushaltungs- und Einrichtungsgegenstände und Ackergerätschaften, nicht zu vergessen die beiden Ziegen. Dafür hat sie sich verpflichtet, dem Vater bis zu seinem Tod den Haushalt zu führen und ihn zu pflegen und zu verpflegen.

 

      Erst 1920 erhält sie die erste Witwen- und Waisenrente. Ich weiß nicht, wie sie die Zeit bis zur ersten Rentezahlung überstanden hat. Dazu später mehr.

      Ich habe an sie einige vage Erinnerungen, eine hagere, weißhaarige Frau, die immer Schwarz trug. Und ich erinnere mich daran, daß sie in einem Zimmer ihres Elternhauses aufgebahrt wurde, wie das früher überall noch Brauch war. Bis zu ihrem Tode im Jahre 1966 - 52 Jahre nach seinem Verschwinden - hat sie nicht erfahren, wo das Grab ihres Ehemannes lag. Und nach ihrem Tod dauerte es noch einmal 36 Jahre, bis dieses Geheimnis gelüftet wurde. Einen kleinen Lichtblick wird es im Januar 1918 gegeben haben, als die Nachlassenschaft ihrer Großeltern geregelt wird [eine Vollmacht, ausgestellt von ihrem Bruder Wilhelm Kirtz, zur Zeit selbst Soldat, beziffert die Erbschaft auf etwa 150 Mark].

 

      Aber diese Geschichte fängt mit einer anderen Geschichte an. Erzählt hat sie ein Israeli namens Seev Kahn im Jahre 2000.

 

Das verlorene Grab meines Großvaters

 

       Es war ein Wintermorgen irgendwann Ende Februar 1915, schwere Regenwolken hingen über den grünen Hügeln, die die Stadt St.Wendel umgaben. Eine junge Frau mit einem drei Wochen alten Baby auf dem Arm erschien an der Tür des Hauses "Hospitalstraße 13". Unsicher betrachtete sie die beiden Polizisten, die mit ernstem Blick auf sie zukamen. Bei ihr angekommen machten sie Halt, einer von ihnen, der Ältere, salutierte und sagte:"Frau Levy, es tut mir sehr, sehr leid, Ihnen mitteilen zu müssen, daß wir gerade eine Nachricht von der Front, erhalten haben, ihren Ehemann betreffend." Die Frau, meine Großmutter Emilie Levy, hörte den Rest nicht mehr. Sie sackte in sich zusammen, und ihre Schwestern brachten sie und das Baby zurück ins Haus, wo sie den Rest ihres Lebens als Kriegswitwe verbringen sollte.

      Das Baby, ein kleines Mädchen namens Lieselotte, wuchs heran und wurde später meine Mutter. Heute (2001) ist sie 86 Jahre alt und lebt in Israel, dem Land, das ihre neue Heimat wurde, als sie und mein Vater, Rudolf Kahn, 1939 überstürzt aus Deutschland flüchten mußten. Dabei mußte sie ihre Mutter in den Händen der Nazis zuzrücklassen, wo sie ein tragisches Schicksal ereilte. Meine Eltern kamen ohne irgendwelche Dokumente, Fotos oder andere persönliche Gegenstände in dieses ferne und unbekannte Land. Somit war ihr bisheriges Leben praktisch ausradiert. Sie akzeptierten diese neue Realität in aller Konsequenz und erzählten uns, meiner jüngeren Schwester und mir, kaum etwas über ihre Zeit in Deutschland.

      Noch vor kurzem hätte ich den sicherlich dramatischen Prolog dieser Geschichte nicht niederschreiben können, denn ich wußte kaum etwas über meinen Großvater. Gut, ich wußte, daß sein Vorname Markus war und er im 1. Weltkrieg getötet wurde, vermutlich im Oktober oder November 1915. Meine Mutter erzählte mir, daß sie als kleines Mädchen meine Großmutter einige Male bei Fahrten zu seinem Grab begleitete. Sie sagte mir zudem, daß er auf einem großen deutschen Soldatenfriedhof begraben sei, irgendwo südlich von Strasbourg: "in Schlettstadt, wo über viele Kilometer tausende von Gräbern zu finden sind...". Ach ja, und das Grabmal sei ein schwarzes Kreuz, genau wie bei all den anderen Gräbern auch. Nichts deutete darauf hin, daß es sich bei dem Grab um die letzte Ruhestätte eines jüdischen Gefallenen handelte. Wann und wo wurde mein Großvater geboren? Keiner wußte es genau. Vielleicht in Berlin oder irgendwo "bei Berlin"? Vermutlich war er vier Jahre älter als meine Großmutter, mußte also etwa 1884 geboren worden sein. Meine Mutter wußte zudem, daß ihr Vater zu der Zeit, als er ihre Mutter kennenlernte, Lehrer in Ottweiler, einer Stadt bei St.Wendel, gewesen sein mußte. Das war zunächst alles, was ich wußte, mehr oder weniger. Man darf wie gesagt nicht vergessen, daß meine Mutter ihren Vater nie kennenlernte und uns keinerlei Familiendokumente zur Verfügung stehen.

      An einem Winterabend vor etwa einem Jahr las ich "The Price of Glory: Verdun 1916 (erschienen 1962; ist nie auf Deutsch erschienen) Ein bemerkenswertes Buch des englischen Autors Alister Horne. Als ich mich mehr und mehr in die furchtbaren Schilderungen dieser Schlacht vertiefte, wurde ich mir mit einem Male der Tatsache bewußt, daß auch mein eigener Großvater in irgendeiner dieser Schlachten geopfert wurde, in der großen Knochenmühle zu Staub zerschlagen. In diesem Moment entschied ich herauszufinden, welches Schicksal ihn genau ereilte. Nicht nur meines eigenen Seelenfriedens wegen, sodern auch im Interesse meiner Kinder und Enkelkinder. Sie sollten einmal die Möglichkeit haben, an seinem Grab für ihn zu beten und sein Andenken zu ehren, eben an genau dem Ort, an welchem er starb.

      Doch wo und wie sollte ich beginnen? Wir haben das Privileg, im 21. Jahrhundert zu leben. Somit bietet sich natürlich das Internet geradezu an. Ein Click zur Suchmaschine und ein weiterer Click nach der Eingabe des Suchbegriffes "Erster Weltkrieg" - und ab ging die Post! Nachdem ich eine Zeit lang einige themenrelevante Seiten absuchte, traf ich meine Wahl und schickte eine kleine Suchanfrage per Email an einige der Website-Inhaber. Nach zwei Tagen wußte ich, ich hatte die richtige Wahl getroffen! Die erste Antwort erhielt ich am 29. Juni 2000 von einem Herrn Hinrich Dirksen. Er hatte beim Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. (VDK) eine Anfrage bezüglich Markus Levy gestellt. Leider ohne Ergebnis. Dieser Ansatz, so stellte sich schnell heraus, war wohl, zumindest zu diesem Zeitpunkt, wenig erfolgversprechend. Das soll kein Vorwurf sein. Bedingt durch die Tatsache, daß ich einfach zu wenig bzw. falsche Daten über meinen Großvater hatte, konnte man mir nicht weiterhelfen. Die große Anzahl der Suchanfragen beim VDK, vor allem den 2. Weltkrieg betreffend, läßt den Mitarbeitern wohl keine Zeit für intensive Recherchen hinsichtlich 1914-1918. Schade!

      Dann, einige Tage nachdem ich die Nachricht von Hinrich Dirksen erhalten hatte, erhielt ich eine weitere e-mail, diesmal von Alexander Kallis. Er bot an, mir bei meiner Suche, die er als langfristige Detektivarbeit bezeichnete, zu helfen. Diese unscheinbare Mail wurde zum Grundstein einer wunderbaren Freundschaft und einer Detektivgeschichte im Stile eines Arthur Conan Doyle. Bei dieser spielte Alexander fortan den Mann mit der Meerschaumpfeife, während ich den Part des Doktors mit den guten Ratschlägen einnahm. Es gab jedoch einen Unterschied zu Conan Doyle: wir suchten nach dem Opfer, nicht nach dem Mörder! Haha!

      Um erfolgversprechende Nachforschungen betreiben zu können, galt es zunächst, die wichtigsten Ansatzpunkte aus meinen wenigen Informationen herauszufiltern. Was wir mit Sicherheit wußten, war, daß meine Mutter in St. Wendel aufwuchs. Ich schrieb einen Brief an die dortigen Behörden mit allen mir bekannten Informationen, ohne daß man mir helfen konnte. Weiterhin war meine Mutter sich ja sicher, daß der gesuchte Friedhof in Schlettstadt, dem heutigen Selestat, lag. Ein Leichtes, so mag man denken, dort nachzufragen. Aber von wegen! Ich versuchte zunächst, eine e-mail Adresse, z.B. von der Stadtverwaltung oder der Meldebehörde zu finden, ohne Erfolg. Ich fand jedoch die Web-Site des Fremdenverkehrsbüros, versehen mit Telefon- und Faxnummer. Ich griff zum Telefon und sprach dann mit einer sehr netten Dame, die mir eine Faxnummer der entsprechenden Behörde gab. Ein Brief auf Deutsch an das Rathaus in Selestat, versehen mit allen mir bekannten Daten, ging am 17. Juli ab. Zwei Wochen später erhielt ich eine Antwort auf Französisch. Alexander ließ den Brief bei seinem Nachbarn, einem Chansonnier, übersetzen. Er übersetzte das Schreiben und alles was nun zu tun war, war, sich entspannt zurücklehnen und zu lesen! Aber: leider wieder schlechte Nachrichten!! Madame Jeannette Moerel von der Ville de Selestat teilte mir mit, daß es, obwohl sie zwei Friedhöfe, einen in Selestat und einen in Bergheim, überprüft hatte, keine Spur von einem Grab eines Markus Levy gebe! Lieber Leser, bitte vergeben Sie mir, wenn ich Sie mit all diesen kleinen Details langweile. Ich tue das nur, um zu vermitteln, wie frustrierend das damals war, als wir quasi im Dunkeln in alle möglichen Richtungen schossen, ohne etwas zu treffen.

      Am 8. August fügte Alexander seiner Web-Site Vogesenkämpfe 1914-1918 ein Diskussionsforum an.

      Großes Feuerwerk, Gratulation und viele gute Wünsche. Okay, ich übertreibe ein wenig, aber diese Entwicklung ermöglichte es mir, einer großen Leserschaft folgende Anfrage zu stellen: "Hat irgendjemand von euch den Grabstein meines Großvaters, Markus Levi, gesehen, davon gehört oder ihn gar berührt? Mein Großvater fiel im Oktober oder November 1915 als Angehöriger der deutschen Armee im Raum Selestat. Es ist möglich, daß er in Saint-Marie-aux-Mines beerdigt wurde."

      Jetzt muß ich kurz erklären, wie Sainte-Marie-aux-Mines hier ins Bild paßt. Seit dem Beginn unserer Suche, der wir scherzhaft den Codenamen "Schatzsuche" gegeben hatten, waren inzwischen drei Monate vergangen. Während dieser Zeit hatte ich immer wieder versucht, das Gedächtnis meiner Mutter aufzuhellen. Und gelegentlich kamen tatsächlich einige neue Gesichtspunkte hinzu.

      In einem dieser Gespräche glaubte sie sich zu erinnern, daß der Friedhof nicht direkt in Schlettstadt, sondern genauer in Schlettstadt-Markirch lag. Alexander erklärte mir, daß die Stadt, die heute Sainte-Marie-aux-Mines heißt, bis zum Ende des 1.Weltkrieges Markirch hieß!

      Unbekannte Freunde tauchten aus der Dunkelheit auf. Verbündete aus Frankreich und Deutschland, die sich mit diesem fast schon vergessenen Krieg beschäftigen begannen, mir zu helfen. Überraschenderweise sind sie alle noch relativ jung, und ihr Interesse an dieser Epoche wurde geweckt durch ihre Großväter oder Ur-Großväter, die in jenem Kriege kämpften. Schon 24 Stunden nach meiner oben genannten Anfrage kam die Antwort eines Franzosen, Eric Mansuy, der in den Vogesen lebt. Er bot mir an, persönlich zu den Friedhöfen Sainte-Marie-aux-Mines, Sainte-Croix-aux-Mine und Bertrimoutier zu gehen. Seiner Antwort fügte er hinzu:"Wünschen Sie mir viel Glück, das ist keine leichte Aufgabe." Eric, das glaube ich Dir, und ich danke Dir für das, was Du getan hast! Eric Mansuy ist Englischlehrer, der bereits viele Artikel in verschiedenen Websites zum Thema Erster Weltkrieg veröffentlicht hat.

      Nun passierte eine Zeit lang gar nichts! Alexander und ich tauschten weiterhin Informationen zu diesem oder jenem Thema aus. Unsere gerade begonnene Freundschaft litt keinesweg unter dem Stillstand hinsichtlich der Suchbemühungen. Unser Kontakt fand jedoch nach wie vor nur via email statt, bis zum heutigen Tage haben wir nicht miteinander gesprochen, geschweige denn uns gesehen! Dann warf Alexander eine Frage auf, welche letztlich sehr wichtig für die Lösung unseres Rätsels wurde: vielleicht hatte mein Großvater ja einen anderen Namen, oder die Schreibweise, die ich benutzte, war falsch? So konnte ja z.B. Levy auch Levi, Markus sehr wohl auch Marcus geschrieben worden sein. Ich fragte meine Mutter, und sie konnte sich erinnern, dass in der Familie immer vom "armen Markus, der im Krieg gefallen ist" gesprochen wurde. Mein Schwiegervater, der 1937 aus Bad Langensalzach nach Israel kam, dachte anders darüber! Er berichtete mir, dass viele Juden einen jüdischen Namen bekamen, den sie innerhalb ihrer Gemeinde und Familie trugen, offiziell aber oft, etwa für die Meldung bei den Behörden, zusätzlich einen christlichen Namen erhielten. Viele gaben zu diesem Zwecke auch einfach ihren eigentlichen "Spitznamen" als offiziellen Namen an! Sollte dies auch bei Markus der Fall gewesen sein, so wäre das eine Erklärung dafür, dass kein Markus Levy in den Unterlagen des VDK auftaucht!

      Ein anderer Bekannter von Alexander wurde dadurch ebenfalls in die Irre geführt. Der Buchhändler Rainer Schlicht. Er führt in seinem Antiquariat ein Buch mit einem sehr langen Titel: "Die Jüdischen Gefallenen des Deutschen Heeres, der Deutschen Marine und der Deutschen Schutztruppen 1914-1918." Dieses durchsuchte er sehr sorgfältig, ohne dabei jedoch auf einen Gefallenen mit Namen Markus Levy oder Levi zu stoßen. Dieses Buch sollte jedoch noch den entscheidenden Hinweis in unserer Sache liefern, ich komme später darauf zurück! Letztlich barg es in seinen vergilbten Seiten schon jetzt die Lösung unseres Rätsels! Also brachte auch die Annahme, dass Markus einen anderen Namen gehabt haben könnte nichts bis zu jenem Zeitpunkt. Wir hatten noch immer keine heiße Spur. Ich wollte fast schon aufgeben und ziemlich frustriert schrieb ich Alexander am 31. Dezember: "Ich glaube, dass wenn es wirklich ein gekennzeichnetes Grab meines Großvaters gibt, dann finden wir es nur durch puren Zufall". Alexander, bitte vergib mir, daß ich zweifelte!

      Und dann geschah das, was in vielen guten Detektivgeschichten passiert: wenn das Scheitern unausweichlich scheint, kommt plötzlich der Durchbruch! Am 24. Januar hatte Alexander nämlich einen Brief in seiner Post. Er kam vom Standesamt in Ottweiler. Alexander hatte einige Tage vorher dorthin geschrieben. Wie der Leser sich vielleicht erinnert, hat meine Mutter immer erzählt, ihr Vater sei Lehrer in Ottweiler gewesen, als er seine zukünftige Frau kennenlernte. Gott sei Dank war Frau Brigitte Kreutz vom Standesamt so clever, den Vornamen Markus zu ignorieren und sich bei der Durchsicht der Unterlagen nur auf den Nachnamen zu konzentrieren: Levy. Sie fand in ihrem Archiv eine Meldekarte eines Max (nicht Markus) Levy, der Lehrer in Ottweiler war, in Magdeburg am 20.Mai 1886 geboren wurde und israelitischen Glaubens war. Der Meldekarte zufolge lebte er von September 1913 bis Mai 1914 in Ottweiler.

      Konnte das mein Großvater sein? Vielleicht ja!! Ottweiler hatte zu jener Zeit nur eine sehr kleine jüdische Gemeinde. Es wäre doch recht unwahrscheinlich, daß es dort gleichzeitig zwei Lehrer mit Namen Levy gegeben hat, oder? Wie und warum aus Markus Max geworden sein könnte, darüber habe ich schon gesprochen. Obwohl der Fund der Meldekarte ein sehr wichtiger Zwischenschritt darstellte, so war er doch letztlich kein eindeutiger Beweis. Dennoch: wir hatten allen Grund, uns zu freuen, und das taten wir!

      Kurz bevor dieser Brief in Alexanders Wohnung in Frankfurt eintraf, ereigneten sich zwei große Durchbrüche, einer in Deutschland und einer in Frankreich. Am 29. Dezember schrieb ein weiterer Freund Alexanders, Leo Ott aus Appenweiler, Mitglied einer französisch-deutschen Gruppe, die sich der Erhaltung militärischer Denkmäler im Elsaß verschrieben hat, einen Brief an Alexander, in dem er auf sehr interessante Funde hinwies. Bei seinen Nachforschungen hatte er herausgefunden, daß sich auf den deutschen Militärfriedhöfen im Elsaß und in den Vogesen zwei jüdische Gräber befanden, eins von ihnen auf den Namen Levy lautend. Das erste, das in Cemay, dem früheren Sennheim liegt, gehört Eduard Levy, der im Mai 1916 getötet wurde. Das andere liegt in Bertrimoutier nahe St. Die. Es ist das Grab eines deutschen Soldaten namens Max Levi, Wehrmann, beerdigt in Grab Nummer 2/574, gefallen am 18. Februar 1915. War das Max Levy aus Ottweiler?

      Leo konnte keine Levys in Sainte-Marie-aux-Mines und Thanville finden. Er fügte in seinem Brief bei, daß der Friedhof von Bertrimoutier erst nach Kriegsende angelegt wurde. Während Leo Ott diese Forschungen von Deutschland aus durchführte, bemühten sich zwei Franzosen auf eigene Faust, die letzte Ruhestätte meines Großvaters zu finden. Einem von ihnen, Eric Mansuy, sind wir bereits begegnet. Der andere ist Thierry Ehret aus Muhlhouse. Mir fehlen einfach die Worte, um ihnen für ihre endlose Suche zu danken, die daraus bestand, daß sie persönlich von Grab zu Grab und Grabstein zu Grabstein gingen, bevor sie fündig wurden. Am 14. Januar schrieb Thierry eine Botschaft in Alexanders Gästebuch: "Mit großer Wahrscheinlichkeit können wir annehmen, daß Max Levy (nicht Markus) am 18. Februar 1915 als Angehöriger der 12. Kompanie des LIR 81 gefallen ist und daß er heute auf dem Militärfriedhof von Bertrimoutier begraben liegt."

      Lieber Leser, wenn ich ehrlich sein soll, muß ich sagen, daß, ich meine Zweifel darüber hatte, wie Thierry Ehret über diesen Mann, der dort unter dem Grabstein in Bertrimoutier liegt, so sicher sein konnte, als er seine Mitteilung in Alexanders Gästebuch schrieb. Erst vor kurzem habe ich herausgefunden, mit welcher Sorgfalt er vorgegangen war, bevor er diese Mitteilung niederschrieb.

      Was es so eindeutig für ihn machte, war sein Zugang zu zwei Büchern, die für seine Nachforschungen von großer Bedeutung waren. Eins von ihnen habe ich bereits erwähnt, und das andere wird im Detail später besprochen. Die Kombination der in beiden gefundenen Daten waren die Grundlage seiner Mitteilung. Das Buch, das ich bereits vorher erwähnte, ist das gleiche, daß Rainer Schlicht in seinem Antiquariat in Frankfurt führte, "Die Jüdischen Gefallenen des Deutschen Heeres, der Deutschen Marine und der Deutschen Schutztruppen 1914-1918." Thierry erhielt Zugang zu diesem Buch über einen Freund, der es ebenfalls in seiner Sammlung hatte. Das andere Buch, das sich mit der Geschichte des LIR 81 beschäftigte, gehörte vermutlich Thierry selbst aufgrund seines Interesses an Kämpfen in den Vogesen. Das Regiment war während des Ersten Weltkrieges lange Zeit in diesem Gebiet stationiert gewesen. Wie die Kombination der Daten aus beiden Büchern half, den Mann in Bertrimoutier zu identifizieren, wird Ihnen in ein paar Minuten klar werden.

      Oh, wie gern ich daran glauben wollte, daß dieser Max Levy, der am 18.2.1915 gefallen war und jetzt in Frankreich ruhte, genau der Mann war, nach dem wir suchten, aber ich mußte aufpassen. Es war zu schön, um wahr zu sein. Ich wagte nicht, es meiner Mutter fest zuzusagen, bevor nicht absolut bestätigt war, daß der Mann, der in Bertrimoutier begraben liegt, identisch war mit dem Mann, der ein oder zwei Jahre vor dem Krieg Lehrer in Ottweiler gewesen war. Und daß er der gleiche Mann war, den meine Großmutter sich zum Ehemann ausgesucht hatte. Wie schon so oft zuvor während meiner Suche besprachen Alexander und ich uns via Email. Viele Fragen tauchten auf, z.B. wie eine Person, die an der Saar lebte, in einem Regiment aus Frankfurt dienen konnte, nämlich dem 81. Landwehr-Infanterie-Regiment? Außerdem hatte meine Mutter gesagt, ihr Vater sei im Oktober oder November 1915 gefallen, nicht im Februar des gleichen Jahres. War ihre Erinnerung falsch oder hatte sie vor langer Zeit von ihrer Familie falsche Daten bekommen? Und der Name, konnte aus Markus wirklich Max geworden sein, aus Levi Levy? Andererseits gab es auch Dinge, die gut paßten. Der Max Levy in Bertrimoutier war unter einem Kreuz und nicht unter einem Grabstein mit dem jüdischen Davidsstern begraben, genau so, wie sich meine Mutter daran erinnerte: "Sein Grab sah aus wie die tausende andere rundherum". Und dann lag Bertrimoutier weniger als 8 Kilometer von Sainte-Marie-aux-Mines (Markirch) entfernt, deshalb konnte es sich tatsächlich um Schlettstadt-Markirch handeln, das von meiner Mutter als Kind besucht worden war. Selbst heute noch hat der Ort Bertrimoutier weniger als 300 Einwohner, so daß man leicht annehmen kann, der Name des Friedhof sei gleich mit dem der nahegelegenen Stadt Markirch.

      Als Bindeglied, als "Rosetta-Stein" unseres Rätsels, erwies sich der Geburtsort meines Großvaters. Es war das einzige Mal während unserer langen Suche, daß ich bei meiner Mutter regelrecht auf eine definitive Antwort drang. Ohne sie über unsere bisherigen Funde zu informieren, fragte ich sie während einer meiner wöchentlichen Besuche - sie wohnt fast 150 km entfernt - wo genau ihr Vater geboren worden sei. Schließlich sagte sie "Marburg" oder "Magdeburg". Da sie früher schon einmal gesagt hatte, er sei irgendwo nahe Berlin geboren worden, war also wahrscheinlich Magdeburg die Antwort. Als wir ihre Antwort mit der Registrierkarte aus Ottweiler verglichen (dort steht Magdeburg als Max' Geburtsort), kamen wir zu dem Schluß, daß wir jetzt nur noch feststellen mußten, ob der Mann in Bertrimoutier im Jahre 1886 in Magdeburg geboren wurde. Und daß es sonst keinen Max oder Markus Levy gab, der im gleichen Jahr geboren wurde.

      Wir mußten also als erstes herausfinden, wo der Mann, der seit 68 Jahren in Bertrimoutier ruht, geboren wurde. Hört sich einfach an. Tja, meine Freunde, ist es aber nicht. Es war naheliegend, daß sich Alexander an das VDK wandte, die einige Aufzeichnungen in ihren Akten haben mußten, wie etwa den Geburtsort und das Geburtsdatum der Soldaten, die in den Friedhöfen beerdigt waren, die unter ihrer Verwaltung standen. In dieser Phase unserer Suche geschah etwas völlig Bizarres. Alexander tauschte viele Emails mit dem VDK aus, und schließlich erhielt er die Nachricht, daß das VDK tatsächlich den Geburtsort des Mannes aus Bertrimoutier in ihren Akten hätte, aber sie dürften diese Information aufgrund der Gesetzeslage ihm nicht mitteilen: "Sogar das Internet unterliegt dem Datenschutz!" Bitte verstehen Sie, wir reden hier über Daten über Militärpersonal, die fast 100 Jahre alt sind, Menschen, die vor langer Zeit in lange vergessenen Kämpfen starben. Selbst in meinem Land, Israel, das sich immer noch im Krieg mit einigen unserer Nachbarn befindet, geben wir solche Daten nach 30 Jahren frei. Jetzt wurde Alexander wirklich böse - das erste und einzige mal, daß ich das bei ihm erlebte - und schrieb einen neuen "überzeugenden" Brief an das VDK. In ihrer Antwort stimmten sie zu - als absolute Ausnahme, nehme ich an - uns eine wichtige Information zu liefern - die wichtigste für uns - nämlich, daß der Mann in Bertrimoutier am 26. Mai 1886 in Magdeburg geboren sei. Hört sich bekannt an, darauf können Sie wetten!!! Wir hatten noch einen Unterschied von sechs Tagen zwischen dem Geburtsdatum auf der Registrierkarte und dem Datum des VDK, aber das konnte einfach durch einen durch einen einfachen Abschreibefehler des Angestellten geschehen sein, der aus der 20 eine 26 gemacht hatte (oder andersrum). So weit, so gut.

      Um das Rätsel um Geburtsdatum und -ort von Max-Markus zu lösen, schickte ich am 21. Januar Emails sowohl an das Standesamt als auch an das Stadtarchiv in Magdeburg und bat um Informationen über meinen Großvater, insbesondere über sein Geburtsdatum. Das Standesamt antwortete noch am gleichen Tag, und man versprach mir, sein bestes zu tun. Und das taten sie auch, wie Sie gleich sehen werden. Am nächsten Tag schickte mir das Archiv eine vollständige Liste alle Levy-Familien, die 1886 in Magdeburg lebten, sechs an der Zahl, aber man konnte mir nicht sagen, welche von ihnen in diesem Jahr vom Storch besucht worden waren. Am 7. Februar erschien ein offizieller Briefumschlag mit deutschen Briefmarken in meinem Briefkasten. Ich riß ihn auf, und da lag sie - eine Fotokopie der Geburtsurkunde von Markus Levy, ein Junge, geboren am 20. May 1886, Eltern: Simon und Sarah Levy (eine der sechs Familien auf der Liste des Standesamtes). Es lag ein Brief bei von Frau Klaus vom Standesamt, der besagte: "1886 wurde in Magdeburg kein weiterer Markus oder Max Levi oder Levy geboren." Das wars. Letzter Beweis, Fall abgeschlossen. Ich möchte diese Gelegenheit nutzen und Frau Klaus, Herrn Buchholz und Herrn Ehlenberger in Magdeburg nochmals für ihre Hilfe danken. Wann und wie Markus Levy seinen Namen in Max geändert hatte, wissen wir nicht. Das geschah irgendwann zwischen seiner Kindheit in Magdeburg und seiner Ankunft in Ottweiler im Jahre 1913. Aber obwohl er ihn offiziell gewechselt hatte, in seiner Familie wurde er immer noch Markus gerufen, so wie meine Mutter ihn nennt.

      Ich habe bereits früher versprochen, das alte vergessene Buch "Die Jüdischen Gefallenen des Deutschen Heeres, der Deutschen Marine und der Deutschen Schutztruppen 1914-1918." nochmal zu nennen. Veröffentlicht wurde es 1932. Als zu Beginn unserer Nachforschungen Alexanders Freund Rainer Schlicht, der Antiquariatsbesitzer aus Frankfurt, die Namen der gefallenen Soldaten im Buch nachschlug, prüfte er nur die alphabetische Liste. Der Grund dafür war, daß wir uns über die letzte Anschrift meines Großvaters nicht sicher waren, von wo aus er in den Krieg zog. Außerdem war es der falsche Name, nachdem er suchte, Markus anstelle von Max, deshalb ist es kein Wunder, daß er ihn unter den Hunderten Levys, die dort genannt werden, nicht finden konnte. Ich wandte mich im Januar diesem vergessenen Buch wieder zu, als wir schon wußten, wer der tote Soldat in Bertrimoutier war. Zu meiner Überraschung stellte ich fest, daß dieses seltene Buch sich die ganze Zeit in meiner unmittelbaren Reichweite befand. Weniger als 50 Kilometer von meinem Wohnort, in der Bücherei des Leo-Baeck-Institute in Jerusalem, stand das Buch mit dem grünen Umschlag in einem Regal und wartete darauf, von mir geöffnet zu werden. Darin, in einer Liste, sortiert nach den Wohnorten der gefallenen Soldaten, standen auf Seite 328 unter "St. Wendel" fünf Namen. einer von ihnen - Sie werden natürlich nicht überrascht sein - war "Levy, Max".

 

Die Namen der fünf gefallenen jüdischen Soldaten aus St. Wendel lauten:

 

Alexander, August

geboren 9.12.1889 St. Wendel

gefallen 15.3.1915

Einheit 1/R.I.R. 17, Verlustmeldung 196

 

Levy, Max

geboren 26.5.1886 Magdeburg

gefallen 18.2.1915

Einheit: 12/LIR 81, Verlustmeldung: 166

 

Reinheimer, Isaak

geboren 21.10.1880 Wallhalben

gefallen 28.9.1915

Einheit 12/RiR 17, Verlustmeldung 367

 

Sender, Jakob

geboren 13.5.1895 St. Wendel

gefallen 28.9.1915

Einheit 3 MG Kp IR 5 Sanitätsgefreiter, Verlustmeldung 704

 

Sender, Leo

geboren 9.8.1894 St. Wendel

vermißt  4.4.1915

Einheit 6/I.R. 166, Verlustmeldung 229

 

      Und jetzt stellen Sie sich das vor: als ich die Liste der gefallenen jüdischen Soldaten aus St. Wendel meiner Mutter zeigte, erkannte sie sofort einen anderen Namen, direkt nach ihrem Vater Max. Es war Isaak Reinheimer, ihr Onkel, Bruder ihrer Mutter Emilie, der als Angehöriger der 12/L.I.R. 81 im September 1915 gefallen ist. Das erklärt auch, warum meine Mutter immer vom Oktober oder November als dem Todesmonat ihres Vaters sprach. Alte Erinnerungen tauchten auf. Mit Tränen in den Augen sagte sie: "Was für eine Tragödie war das, die beiden gefallen und meine Mutter allein mit mir zurückgelassen." Vielleicht war in späteren Tagen, wenn sich Mitglieder der Familie über ihre beiden Lieben unterhielten, die Erinnerung im Gedächtnis der jungen Waisen vermischt worden, und so wurde eine Tragödie daraus, die an nur einem Tag passierte.

 

      Wo und wie starb Wehrmann Max (Markus) Levy? Wieder war es ein altes und seltenes Buch, das die Antwort lieferte. Dieses Buch ist jetzt im Besitz von Hubertus Ochsler, einem weiteren Freund Alexanders, der es von irgendwo her erhalten hatte. Es wurde geschrieben vom medizinischen Offizier des Landwehr Infanterie Regiment 81, Dr. med. Fritz Samer, einem Offizier und Ehrenmann, mit sowohl medizinischen als auch schriftstellerischen Talenten. Ich hoffe, daß seine chirurgischen Fähigkeiten genauso gut waren wie seine Prosa. Zehn Jahre nach dem Ende des Krieges, im Jahre 1928, veröffentlichte er die Geschichte seines Regiments im 1. Weltkrieg unter dem Titel "Das Landwehr Infanterie Regiment 81 im Grossen Krieg. Sein Leben und Kämpfe." In diesem Werk finden wir die Antwort und erfahren, was am 18. Februar 1915 geschah, an dem Tag, an dem mein Großvater starb.

      Als die heftigen Kämpfe im August und September endeten und sich die Front im Elsaß und in den Vogesen mehr oder weniger stabilisierte, fand sich das L.I.R. 81 in Stellung nahe der Hauptstraße von St. Die - Sainte-Marie-aux-Mines - Selestat, in der Nähe des kleinen Städtchens Lusse. Französische Truppen hielten ihre Stellungen auf dem bewaldeten, hügeligen Gelände südlich der Straße, gegenüber von Lusse. Dieser schmale Rücken war bekannt als der "Schusterberg" und "Hügel 600" (ein Hügel, der von den Franzosen als 607 Meter hoch gemessen wurde und heute noch Cote 607 genannt wird). Der Hügel ermöglichte überragende Beobachtungsmöglichkeiten über das gesamte Gebiet, was auch von der französischen Artillerie reichlich ausgenutzt wurde. Nach den Worten Dr. Samers hielten beide Seiten ihre Stellungen auf dem Schusterberg (dem östlichen Teil des Rückens), "auf sehr kurze Distanz, wie zwei Kämpfer in einem Boxring. Einer von ihnen mußte die Inititiative ergreifen und den anderen von dort vertreiben." Schon im Januar hörten Soldaten des Regiments ihren Kommandeur, Oberst Vogel, sagen: "Die Höhe muß unser werden."

      Der Angriff wurde auf den 18.2.1915 festgesetzt. Der Angriffsplan war einfach, geradeaus, wie es damals üblich war. Hauptmann Bernhard, der kommandierende Offizier des 3. Bataillons, meldete sich freiwillig - "natürlich", so meldet uns Dr. Samer - und übernahm die Hauptrolle während der Attacke. Seine Tapferkeit stellte sich als tödlich heraus für meinen Großvater, den Lehrer aus Ottweiler, denn er diente in der 12. Kompanie, eine der vier Kompanien des 3. Bataillons. Durch die Meldung seines kommandierenden Offiziers wurde Max (Markus) Levy zum "Freiwilligen". Das 3. Bataillon sollte die französischen Stellungen an der Westseite des Schusterbergs zerschlagen und sich dann seinen Weg den Hügel 600 hinauf freikämpfen. Der Hügel war ein stark befestigtes Plateau, umgeben von Stacheldraht und Maschinengewehr-nestern. Das 1. und das 2. Bataillone des Regiments sollten ihnen folgen, sofern sie erfolgreich waren, das 1. Bataillon in der linken und das 2. Bataillon in der rechten Flanke. Die Absicht war, daß die beiden Bataillone den Angriff weitertragen sollten in Richtung La-Combe, einem kleinen Dorf ungefähr 400 Meter westlich von Hügel 600.

      Hauptmann Bernhard, der Kommandeur des 3. Bataillons, befahl mit Zustimmung seiner Vorgesetzten die Gefechtsaufstellung. Die 9. und 10. Kompanie wird durch die Mitte vorrücken, während die 12. Kompanie auf der rechten Seite und die 11. Kompanie auf der linken Seite angreift.

      Dann gab er seine Anweisungen, wie sie in Dr. Samers Buch aufgeführt werden:

      1. Es ist beabsichtigt, nur mit Handgranaten und ungeladenen Gewehren, das Bajonett aufgepflanzt, anzugreifen, weil der Feind sehr nahe ist und der Schußwinkel begrenzt.

2. Das Bataillon wird in drei Wellen angreifen. Die erste Welle wird mit Handgranaten, Äxten, Signalpistolen, Stricken, Planken, Leitern und Stacheldrahtscheren ausgerüstet sein. Die zweite Welle wird die erste Welle unterstützen und ihre Reihen auffüllen, und die dritte Welle wird mit der notwendigen Ausrüstung ausgestattet sein, um die feindlichen Stellungen angreifen zu können. Jede Welle wird aus 200 Mann bestehen.

3. Richtung des Angriffs: Hügel 600

4. Zwei Maschinengewehre werden einen Sperrfeuervorhang in Richtung der feindlichen Stellungen legen, eines in der rechten Flanke und eines nahe des "Felsens".

5. Medizinische Hilfe und Sammelplatz für die Verwundeten: Gefechtsstand der 11. Kompanie.

      Zehn Jahre später erinnert sich der Sanitätsoffizier Dr. Samer an die Schlacht als ein heroisches und romantisches Ereignis. Lauschen Sie seinen Worten:

      "Der 18. Februar brach heran. Eine milde Sonne erhob sich über den Vogesenkämmen, als wolle sie von dem hundertfachen Leid, das die Höhe 600 bald erfüllen sollte, wenigstens die Unbilden der Witterung fernhalten."

      Ich glaube ihm seine prosaischen Worte, denn das Rückbesinnen auf Ereignisse mancher Kriege ruft eine solche Stimmung hervor. In Wirklichkeit war es es ein bitterer Kampf zwischen zwei verzweifelten Feinden, und der unschuldige Soldat im Felde hat nichts dazu zu sagen. Der Angriff war für 16.30 Uhr angesetzt worden, aber die Artillerie begann bereits um 12 Uhr mit ihrem Beschuß, mehr als 4 Stunden vor dem eigentlichen Angriff. Der gesamte Rücken - vom Schusterberg bis La-Combe - war bald mit schweren Wolken grauen Rauches bedeckt. Der bittere Geruch des Pulvers, das "Aroma des Todes", erfüllte die Luft, und die Männer des LIR 81 warteten im Schatten der Tannen auf das Signal ihres Kommandeurs. Wir können nur erahnen, was ihnen während dieser Stunden durch den Sinn gegangen sein mag. Schließlich - um 17.45 Uhr - mit einer Verspätung von mehr als einer Stunde, verstummte das Artilleriefeuer. Hauptmann Bernhard hob seine Hand, und die Hölle brach los. Franzosen und Deutsche kämpften wie Wölfe und Bären, brachten sich durch Maschinengewehrfeuer, mit Gewehrpatronen, Bajonetten, Äxten und manchmal mit bloßen Händen gegenseitig um. Am Ende des Tages, die Dunkelheit war schon herangebrochen, war der Hügel 600 in deutscher Hand. L.I.R. 81 hatte 103 Männer verloren, 45 wurden vermißt. Insgesamt 148 tapfere Männer gaben ihr Leben für einen Bodengewinn von 300 Metern. Unter ihnen war mein Großvater, Max (Markus), der als Nummer 215 auf der Verlustliste des L.I.R. 81 erscheint.

 

      Eine unbekannte Anzahl französischer Soldaten des Infantrieregiments 253 und des "Alpine Ranger Bataillon 23" verloren ebenfalls ihr Leben. Die Deutschen begruben 50 von ihnen in gekennzeichneten Gräbern, aber viele andere, die in ihren Gräben starben, wurden einfach nur mit Erde bedeckt.

      Als Israeli kann ich diese sehr persönliche Geschichte nicht beenden, ohne ein letztes Wort über die Rolle der deutschen Juden im 1. Weltkrieg zu sagen. Im Jahre 1914 lebten insgesamt 600.000 Juden in Deutschland (weniger als 1 % der Gesamtbevölkerung). 80.000 Mitglieder dieser kleinen Gemeinde wurden zu den Waffen gerufen. Sie dienten im Heer, in der Marine und sogar in der neu ins Leben gerufenen Luftwaffe, und über 12.000 von ihnen verloren ihr Leben auf Europas Schlachtfeldern, gaben es für das, was sie für ihr geliebtes Vaterland hielten. Mein Großvater Max (Markus) Levy war einer von ihnen.

      Jetzt, wo ich weiß, wo er seinen letzten Kampf gekämpft hat und wo er vor mehr als 86 Jahren begraben wurde, kann ich diese Orte besuchen und die Erinnerung an ihn ehren, in dem ich das alte jüdische "Kadish"-Gebet an seinem Grab spreche. Ich hoffe, meine Kinder und Enkel werden dies ebenso tun, wenn sie ihren Urlaub in diesem Teil Europas verbringen - einen Moment lang in Bertrimoutier und am Hügel 600 anhalten und diesem tapferen Vorfahr einen Ehrengruß erbieten.

      Das war’s, meine Freunde. Dies ist meine Geschichte und die Geschichte aller Männer und Frauen, die mich bei dieser langen und mühsamen Suche unterstützt haben. Ich möchte ihnen allen aus der Tiefe meines Herzens danken, was sie für mich und meine Familie getan haben.

 

 

Die Familie Reinheimer in St. Wendel

 

      Das war die Vorgeschichte. Doch bevor wir hier weitermachen, lassen Sie mich die Familie Reinheimer vorstellen, Seevs Ururgroßeltern:

      Emilie Levy war die zweitälteste Tochter des Krämers Abraham Reinheimer und seiner Ehefrau Fanny Beildeck. Reinheimer war am 29. August 1899 mit seiner kinderreichen Familie von Wallhalben bei Pirmasens nach St. Wendel in das Haus Neumarktstraße 3 gezogen.

 

      Dort übernahm er das Geschäft Schömann und handelte mit Lumpen, Eisen, Kupfer und Messing, er war also ganz klassisch ein Lumpenkrämer. Hier kam auch das jüngste der elf Kinder, die Tochter Lina, zur Welt. Im November 1903 kaufte Reinheimer von der Familie Büchel das Haus Hospitalstraße 13. Der Umzug erfolgte im März 1904, und die Familie wohnte im Haus bis 1935. Seine Ehefrau Fanny starb 1911, Abraham im Jahre 1924. Sie wurden vermutlich oben auf dem Friedhof bei Urweiler bestattet, aber das Grab ist dort nicht mehr zu finden.

      Die Reinheimers waren Juden, und von ihren elf Kindern wurde nur eins nicht von den Nazis ermordet, das war der Sohn Isaak. Er ist im September 1915 in Frankreich gefallen.

      Emilie Reinheimer ist die einzige der Töchter, die heiratet. Ihr Ehemann ist der Lehrer Marcus Levy, genannt "Max", geboren 1886 in Magdeburg. Seit September 1913 ist er Lehrer an einer Schule in Ottweiler. Am 11. Mai 1914 wird er an eine andere Schule im Raum Köln-Mühlheim versetzt. Kurz darauf wird seine Frau schwanger. Max erhält seinen Stellungsbefehl und wird im Sommer 1914 zum 81. Landwehr-Infanterie-Regiment eingezogen, das in Frankfurt am Main aufgestellt wird. Emilie bleibt in Köln-Mülheim, als ihr Ehemann in den Krieg zieht. Am 29. Januar 1915 wird dort ihre Tochter Liesel geboren. Am 20. Februar 1915 verläßt sie Köln und zieht zu ihren Schwestern nach St. Wendel. Drei Wochen später fällt ihr Ehemann in Frankreich.

      Tochter Lieselotte heiratet 1935 in St. Wendel den jüdischen Rechtsanwalt Rudolf Kahn aus St. Ingbert. Der praktiziert zunächst noch in St. Ingbert, erhält aber schon bald Berufsverbot. Er wagt es, dagegen Einspruch einzulegen, und seine Ehefrau schreibt einen geharnischten Brief nach Berlin und beklagt die Ungerechtigkeit. Anfang 1939 flüchten sie per Schiff nach Palästina. Doch die Briten lassen das Schiff nicht in den Hafen und schicken es zurück. Nur ein paar Familien dürfen von Bord, unter ihnen Rudolf und Lieselotte Kahn, denn sie ist hochschwanger. Im Mai 1939 kommt ihr Sohn Seev zur Welt. Ihre Mutter Emilie bleibt in St. Wendel zurück und wird umgebracht.

 

Der Weg, den uns Gott beschert hat.

 

      Die Suche nach dem Grab meines Urgroßvaters väterlicherseits verlief längst nicht so spektakulär wie die von Seev Kahn. Mein Interesse wurde geweckt durch meinen Vater, der mich bat, im Internet nach dem Ort Lagarde Ausschau zu halten. Lagarde in Frankreich, dort soll Nikolaus Geiger 1914 gefallen sein. Ich fand Lagarde, es liegt unten am Mittelmeer, nicht weit von Marseille. Daß ich überhaupt dort suchte, lag schon daran, daß ich überhaupt keine Ahnung vom Ersten Weltkrieg hatte, nichts wußte von seinem Verlauf oder seinen Schlachtfeldern. Keine Ahnung und keinen Bezug.

      Das änderte sich ein wenig, als ich im Internet auf einer Website über Seev Kahns Artikel stolperte, der ursprünglich in Englisch verfaßt worden war. Ich hatte eigentlich etwas ganz anderes gesucht, und nur weil im Artikel die beiden Worte "Regiment" und "St. Wendel" vorkamen, stieß ich überhaupt auf ihn. Der Betreiber der Website heißt Alexander Kallis. Über ihn nahm ich Kontakt mit Seev auf, und dieser war hocherfreut, als Alexander und ich den Artikel ins Deutsche übersetzten.

      Als ich meinem Vater das Ergebnis meiner Suche nach Lagarde zeigte, wunderte er sich darüber, denn es paßte überhaupt nicht zu dem, was er wußte. Warum sollte ein Deutscher, der ziemlich früh im Krieg fiel, so weit im Süden beerdigt sein? Ihm lagen Briefe vor, die Nikolaus aus dem Feld nachhause geschrieben hatte. Einer davon wurde am 8. August 1914 aus einem Ort namens „Ormange“ abgeschickt.

 

 

      Als Absender gab er an: „Wehrmann Geiger, 2 Komp. Inf Reg 138, z.Zt. im Feld, 21 Korps, 42. Division“

      Die korrekte Bezeichnung des „Inf.Rgt 138“ ist „3. Unterelsässisches Infanterie-Regiment Nr. 138“

 

      Der Ort Ormange, von dem Nikolaus seinen Brief abschickt, heißt heute Ommeray und liegt im Elsaß, und da paßt Lagarde in Südfrankreich natürlich nicht. Da ich nicht weiter wußte, fragte ich den einzigen Spezialisten, den ich auf dem Gebiet kenne, und das ist Alexander Kallis. Alexanders Antwort kam im März 2002. Er teilte mit, daß es von Nikolaus’ Regiment ebenfalls eine Regimentsgeschichte gäbe, 1935 verfaßt von einem Veteran des Regiments namens Dr. Wilhelm Lasch. Vielleicht könnte ich darin etwas über das Schicksal meines Urgroßvaters erfahren.

      Dann schrieb er noch zwei Sätze, und die hauten mich um:

"Wenn Du aber "lediglich" wissen willst, wo Dein Urgroßvater begraben liegt, kann ich Dir helfen!! Der Wehrmann Nikolaus Geiger, geb. am 05.04. 1883, ruht auf dem Friedhof von Bertrimoutier in den Vogesen, dem gleichen Friedhof, auf dem Seevs Großvater Max Levy begraben liegt!"

      Schon einige Male während meiner langjährigen Forschung nach den Rätseln unserer örtlichen Vergangenheit habe ich mir Gedanken gemacht, machen müssen über die Rolle des Zufalls oder des Glücks, um es bei einem anderen Namen zu nennen. Zu Beginn, als ich noch von nichts keine Ahnung hatte und stellenweise wild herumgeraten habe, ohne Zusammenhänge zu kennen oder zu erkennen, da kamen sie mir oft zu Hilfe, und ich dachte schon, ich hätte eine besondere Gabe, Detail zu finden, ob ich sie suche oder nicht. Die glücklichen Treffer sind selter geworden, doch ab und zu geschehen sie und helfen mir dann, einen Schritt nach vorn zu tun (so, genuch philosophiert).

      Übers Internet versuchte ich, eine Kopie der Regimentsgeschichte des 138ten zu finden. Und ausgerechnet zu dem Zeitpunkt wurde sie im Internet angeboten. 9 Euro habe ich dafür bezahlt.

      Das Buch kam gerade rechtzeitig zu Opa Walters 90. Geburtstag im Mai 2002. Nacheinander besuchten Angehörige der Familie besuchte das Grab in Bertrimoutier  und brachten Fotos mit. Mitte August 2002 holte mich mein Vater morgens ab, und wir fuhren über Saargemünd und Saverne hinunter nach Bertrimoutier. Den Friedhof erreichten wir nach gut zwei Stunden Fahrt.

      Da ich amerikanische Verhältnisse gewöhnt war (St. Avold und Luxemburg), erschien er mir eher klein. Er liegt knapp außerhalb des Ortes an einem Südhang; durch ein steinernes Tor betritt man den französischen Teil. Zwei Tafeln mit Photos erläutern den Zweck des Friedhofes und die militärische Situation, die zu seiner Anlage führte. Zwischen den weißen Kreuzen der französischen Soldaten, die für Frankreich starben (so stehts auf jedem Kreuz drauf) gelangt man an der Trikolore vorbei zu einem fünf Meter weiten Durchlaß. Hier steht ein steinernes Monument für die gefallenen deutschen Soldaten. An seiner Rückseite ist ein Fach, das einen Abriß über die Geschichte des Friedhofes sowie ein alphabetisches Verzeichnis der Gefallenen mit Angabe des Grabes enthält. Sehr hilfreich zur Orientierung auf dem Friedhof.

      Links und rechts des Durchlasses liegen zwei mehr als 50 Meter lange und gut fünf Meter breite, durch Mauern eingefaßte Felder, die mit Korniferen bewachsen sind. Das sind die beiden Gemeinschaftsgräber, in denen mehr als 5.500 gefallene Deutsche ruhen. Einer von ihnen ist mein Urgroßvater Nikolaus. Sein Name findet sich auf einer der zwanzig Gedenktafeln unterhalb der Gemeinschaftsgräber.

 

Während mein Vater unsere Namen in das Besucherbuch eintrug, durchstreifte ich den unteren Teil des Friedhofes und besuchte Max Levy, Seevs Großvater. Auf dem Rückweg fuhren wir in die nahegelegene Stadt St. Die, um vor der Heimfahrt noch einen Kaffee zu trinken.

      Nikolaus Geiger war nie in St. Die gewesen, wie auch das Gros der Gefallenen in Bertrimoutier nicht. Denn die Stadt und damit auch Bertrimoutier lag damals noch weit hinter der Front, und diese berührte auch im späteren Verlauf der Kämpfe dieses Gebiet nie.

 

Rekrutierung und Militärdienst

 

      Früher habe ich mich immer gewundert, wieso zwischen Kriegsausbruch und Einberufung nur wenige Tage liegen. Als ich vor 30 Jahren zur Wunderwehr kam, dauerte die Grundausbildung drei Monate, ein halbes Jahr später ergänzt Erweiterte Einführungsausbildung. Bis dahin war ich mit meiner Knarre, dem G3, relativ vertraut. Ich konnte es auseinandernehmen und wieder zusammenbauen, zur Not auch im Dunkeln. Ich wußte, wie man damit zielt und schießt und wie man es sauberhält. Ich hatte Kasernenhofdrill hinter mir, konnte im Gleichschritt marschieren und kannte die gängigen Befehle. Und - ganz wichtig - ich konnte ohne fremde Hilfe die Kantine finden. Aber das alles braucht seine Zeit, das lernt man nicht von heut auf morgen (nun ja, die Kantine finden vielleicht schon).

      Warum konnte man also Nikolaus vom Hochofen weg rekrutieren und darauf vertrauen, daß er wußte, was er wie anstellen sollte? Nun, weil man das so nicht gemacht hat.

 

      In Preußen um die Wende ins 20te Jahrhundert wurde man mit 20 militärpflichtig. Nach diesem Geburtstag mußte man sich bei der Kommunalverwaltung melden und wurde in die Rekrutierungsstammrolle seines Heimatortes eingetragen - was aber noch nicht bedeutet, daß man definitiv auch zum Militärdienst angenommen wurde. Über die Verwendung des Wehrpflichtigen hatten die Ersatzbehörden zu entscheiden, wobei sich das Wort „Ersatz“ auf den Nachschub an Soldaten bezieht. Aufgrund eines Tests, der natürlich auch eine ärztliche Untersuchung beinhaltete, entschied die sog. Ersatzkommission, wer als tauglicher Wehrpflichtiger zum aktiven Dienst herangezogen wurde. Da es fast immer mehr Taugliche als Bedarf gab, wurde zudem per Los entschieden, wer genommen wurde und wer nicht. Lose mit hoher Nummer bedeuteten Befreiung vom aktiven Dienst. Die aktive Dienstpflicht dauerte bei der Infanterie 2 Jahre. Danach wurde der Entlassene in die Reserve übernommen, wo er so lange verblieb, bis er - inkl. Dienstzeit - 7 Jahre Dienst geleistet hatte.

      Spielen wir das für Nikolaus Geiger, über dessen Wehrdienst wir keine Unterlagen besitzen, einmal durch.

 

Nikolaus Geiger

* 1884

 

1904, alt 20 Jahre                     militärpflichtig

1906, alt 22 Jahre                     aus dem aktiven Dienst in die Reserve

1911, alt 27 Jahre                     Landwehr 1. Aufgebot

1916, alt 32 Jahre                     Landwehr 2. Aufgebot

1923, alt 39 Jahre                     Entlassung aus der Militärpflicht

 

Er wurde geboren 1884.

Militär- und damit meldepflichtig wurde er mit 20, also 1904.

Er wurde gemustert, eingezogen und verübte seinen Dienst bei der Infanterie 2 Jahre lang bis 1906.

      Dann kam er sieben Jahre in die Reserve (Teilnahme an Kontrollveranstaltungen und an 2 Übungen mit bis zu 8 Wochen Dauer).

      Nach 7 Jahren - jetzt ist er 27 und wir schreiben das Jahr 1911 - kam er in die Landwehrpflicht und gehörte nun zur „Landwehr 1. Aufgebot“. Ohne den 1. Weltkrieg wäre er dort 5 Jahre geblieben (inkl. den Kontrollveranstaltungen und ebenfalls 2 Übungen von je 8 Wochen Dauer). Nach den 5 Jahren im 1. Aufgebot wäre er mit 32 Jahren (1916) zur „Landwehr 2. Aufgebot“ gekommen. Mit 39 Jahren (1923) wäre er aus dem Dienst entlassen worden.

      Er hat demnach 2 Jahre und 4 Monate aktiven Dienst geleistet. Er wußte wohl, was er zu tun und wie er sich zu verhalten hatte.

      Sein Dienstgrad war Gefreiter. Als „Wehrmann“ gehörte er der Landwehr an, in der alle Eingezogenen dienten, sofern sie nicht Einheiten des stehenden Heeres zugeordnet waren.

 

      Das 138te lag zu Beginn des Krieges in der lothringischen Stadt Dieuze, die seit dem Krieg von 1870/71 zum deutschen Reich gehörte. Ihr gegenüber - etwa 12 km entfernt - liegt Luneville. Am 31. Juli 1914 traf der Befehl "drohende Kriegsgefahr" ein. Die Einheiten entlang der Grenze übernahmen den Schutz der Grenze. Das 138te machte mobil und rief seine Reservisten ein.

 

 

An Ehefrau Nik Geiger, Hüttenarbeiter, in Baltersweiler b. St. Wendel

Bez. Trier

 

Dieuze 1.8.14

Liebe Frau!

Heute Mittag um 1 50 sind wir von St. Wendel fort. Um 4.30 kamen wir nach Saargemünd, wurden dort eingekleidet und kamen um 11.00 wohlbehalten hier an. Ich, August Stabler u Jakob Stoll sind bei einer Compagnie. Besten Gruß

Dein Nikolaus

 

 

      Das 138te stieß von Dieuze nach Südwesten Richtung Grenze vor und ging etwa 10 Kilometer davor in Stellung. es hatte einen Streifen Grenze von immerhin 15 km zu überwachen.

 

Güblingen 3.8.14

Liebe Frau!

Wohlgemut sendet dir und allen Angehörigen und Verwanten die besten Grüße dein dich liebender Mann

 

Bei uns steht noch alles gut, trotzdem wir dem Feinde so nah, bekommen wir doch keinen zu sehen. Gräme dich nicht allzusehr, wir sehen uns hoffentlich bald wieder.

Besten Gruß! Dein Nikolaus

 

 

 

      Guéblange-les-Dieuz („Geeblän“) liegt ein paar Kilometer südlich von Dieuze, damals wie heute ein verschlafenes Nest, das nur aus einer einzigen langen Straße besteht.

      Das 138te blieb bis zum 4. August im Grenzschutz. Am 6. wurde es der 59. Infanteriebrigade unterstellt. Kurz danach kam es zu ersten Gefechten gegen die französischen Truppen. Am 7. August lag das I. Bataillon in einem Waldstück bei Ommeray (Nikolaus nennt es „Ormange“), etwa 10 km südlich von Dieuze. Tags darauf zogen sie ein paar Kilometer weiter, kehrten aber abends wieder in ihre alten Stellungen zurück.

 

Ormange den 8. August 1914

Liebe Frau, Kinder und Schwagern.

Da ich Euch schon zwei mal während meiner Abwesenheit mit Karten beglückt habe, will ich Euch heute - auf meinem Tornister im Walde sitzend - einige Zeilen mehr mitteilen.

 

Ich befinde mich Gott sei's gedankt noch recht gesund und rüstig, was ich von Euch allen auch noch hoffe. Wir liegen hier und halten den Grenzschutz. Wie ich Euch schon mitgeteilt habe, bin ich, Aug. Stabler und Jak. Stoll in einer Kompagnie. Lorig ist, wie ich denke, im 3. Battl.

 

 

[August Stabler, geb. 1884 in Baltersweiler, hat den Krieg überlebt. Er war verheiratet mit Anna Rullof aus Eppelborn. Als ihr Mann in den Krieg zog, war seine Frau mit ihrem vierten Kind (Tochter Therese) im vierten Monat schwanger. Das letzte ihrer 10 Kinder - Brigitte - kam im Juni 1930 zur Welt.]

 

Teile mir bitte einmal mit, wenn es dir möglich ist, wo mein Bruder hingeschafft wurde und wo wir unsererseits schon Siege gefochten haben, wir werden hier von der ganzen Welt nicht das Mindeste gewahr.

 

[Bei welcher Einheit sein Bruder Jakob diente, habe ich nicht herausfinden können. Er überlebte den Krieg und lebte mit seiner Familie in Grügelborn.]

 

Macht Euch weiter keine Sorge, denn es geht doch denselben Weg, den uns Gott beschert hat. Erziehet die Kinder gut und betet mit ihnen zu Gott, daß er uns wieder glücklich und gesund zusammen führen möge.

 

Denn Christus sagte schon:

Das Gebet der Kinder dringt durch die Wolken.

Bis jetzt haben wir noch nichts mitgemacht,

was Feindseligkeiten anbelangt.

Besten Gruß

Nikolaus"

 

Lagarde

 

Am 9. August folgten Umgruppierungen, während denen die Kompanien mal hierhin, mal dahin marschierten. Am 10. August überquerte das Bataillon die deutsch-französische Grenze bei Avricourt und ging bei Lagarde in Stellung.

      Lagarde besteht aus einer langen geraden Straße, die an der Kirche in der Ortsmitte nach Süden abknickt und schließlich den Rhein-Marne-Kanal über eine kleine Brücke bei einer Schleuse überquert.

      Diese Brücke zu nehmen und zu halten, war wohl das Ziel des sich anschließenden Gefechts am 10ten und 11ten August 1914.

      Die Deutschen hatten den Ort am 10ten besetzt, als spät abends noch Einheiten einer französischen Infanteriebrigade den Ort angriffen und die Deutschen zum Rückzug zwangen. Diese gingen am 11ten zum Gegenangriff über und eroberten die Stadt zurück. Es wurde ein langer Tag bei glühender Hitze. Lagarde ist heute dafür bekannt, daß dort die letzte schwere Kavallerieattacke geritten wurde. Männer auf Pferden mit Lanzen gegen Infanterie mit Karabinern und Maschinengewehren. Die Verluste der Ulanen - so hießen die Kavallerieeinheiten - waren enorm. 16 Offiziere, 219 Mann, 304 Pferde.

      Mein Vater Horst und ich waren im August 2014 dort. Wir erreichten Lagarde um die Mittagszeit, und der Ort lag wie ausgestorben. Im Buch des 138ten Regiments sind Fotos der Häuser von 1914 abgebildet, und wir versuchten, die alten Einstellungen von damals nachzuvollziehen.

      Und da gab es gleich die ersten Probleme. Die Franzosen sind wirklich hilfsbereit und nett, aber sie verstehen kein Französisch. Uns haben sie jedenfalls nicht verstanden.

 

          Vom Ortseingang bis zur Kirche sind es gut 300 Meter, und von der Kirche zum Kanal ist es bestimmt genauso lang.

 

      Seitlich der Kirche steht ein großes Kreuz aus weißem Marmor. Unter den Worten „LAGARDE 11 AOVT 1914“ ist eine zweisprachige Tafel angebracht:

 

      „Ce lieu fut l’un des premiers temoins du dechirement fraticide de peuples desomais unis. En memoire de toutes les victimes. Aout 2014“

      „Dieser Ort war einer der ersten Zeugen des Brudersmordes von Völkern, die nun vereint sind. In Gedenken an alle Opfer. August 1914“.

 

      Davor liegen drei Kränze. Einer stammt vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Die Feierlichkeiten haben wir um eine gute Woche verpaßt.

      Nahe der Brücke trafen wir auf einen alten Mann, dem wir unser Buch und die Fotos zeigten, und er wußte sofort, wo das war.

      Ja, da ist das Forsthaus, und dort wohnt Francois, und da, wo die Gänse laufen, da stehen wir jetzt.

      Der deutsche Friedhof? Gerade da drüben in der Rue du Bordonnay.

      Der deutsche Friedhof liegt 1914 wie heute an der gleichen Stelle, heute natürlich in modernerer Form mit Stein- statt der originalen Holzkreuze. Die Mehrzahl der Opfer ist am 11. und 12. August 1914, ein kleinerer Teil bei den Kämpfen im September und während des Stellungskrieges von 1915 - 1918 gefallen. Beide Friedhöfe, der französische wie der deutsche, wurden noch zu Kriegszeiten von deutschem Militär angelegt.

      Vom IR 138 sind an den beiden Tagen im August 5 Offiziere und 59 Mannschaften gefallen, die ersten Toten des Regiments. 6 Offiziere und 98 Mann wurden verwundet. Wie leicht, wie schwer, das läßt der Bericht aus. Und 38 Mann wurden vermißt. Vermißt - das Wort kann mehrere Bedeutungen haben. Gefangengenommen? Versprengt? Auf dem Friedhof liegen etwa 379 Gefallene, davon 72 in Einzelgräbern. Am gegenüberliegenden Ende liegt ein Massengrab, in dem die Gebeine von 307 Gefallenen ruhen. Nur bekommt man auf so einer Fläche nicht so viele Körper unter. Hier ruhen die, die hoffentlich das Glück hatten, sofort tot gewesen zu sein. Die von etwas größerem getroffen wurden als von einer Patrone. Hier liegen die fünf Offiziere und ein Großteil der 59 Mannschaften und vermutlich auch die Mehrzahl der 39 Vermißten. Ihre Namen stehen in kleinen Lettern auf großformatigen Metallplatten, etwa 10 in einer langen Reihe.

 

August 13, 1914

Liebe Frau

Da mich der liebe Gott bis jetzt noch gesund und unverletzt erhalten hat, will ich dir mitteilen, daß ich die Feuertaufe schon erhalten habe. Wir hatten schon 2 Gefechte zu bestehen bei Lagarde.

 

Hast du denn noch keines von meinen Schreiben bekommen, da ich noch keine Antwort erhalten habe. Ich habe Dir doch bereits schon 1 Brief und 3 Karten geschrieben. Wenn Du schreibst lasse den Brief offen und schreibe darauf Feldpostkarte o. Feldpostbrief.

 

Teile mir auch bitte mit, wie es mit den Kindern, Pappa meinen Eltern u Geschwistern und allen Verwanten aussieht,

wo mein Bruder Jakob hingeschickt wurde.

 

      Nikolaus hat an den Gefechten in Lagarde teilgenommen. Das I. Batallion lag in einem Waldstück südöstlich der Ortschaft, zur rechten und zur linken flankiert von anderen deutschen Einheiten. Während die Kavallerie von Norden her die französischen Geschütze angriff, führte die Infanterie von Süden einen Sturmangriff durch.

      Sturmangriff - hört sich immer gut an, klingt nach Abenteuer. Da stürmen ein paar hundert Männer in aufgelockerter Formation aus dem Wald hervor, den Karabiner in Vorhalte, das Bajonett aufgepflanzt, wütende Kriegsschreie ausstoßend. Sie laufen über die Wiesen, springen über Gräben, stürzen, rappeln sich auf, laufen weiter, schreien weiter. Ein Gefreiter namens Hans Schmidt aus der 5. Kompanie beschrieb später seine Erlebnisse:

 

Alsbald wurden Kommandorufe laut, die Bataillone wurden auseinandergezogen, um kompanieweise in Kolonne vorzugehen. Meine Kompanie marschierte querfeldein, über Wiesen und Stoppelfelder, dem Feind entgegen. Der Hauptmann ließ die Kompanie in zugweise in Kolonnen aufmarschieren, und gleich darauf ertönte das Kommando: 1. Zug mit 5 Schritt Zwischenraum links heraus -

Schwärmen! - Marsch! Marsch!

 

Beim Anmarsch war schon der dumpfe Ton von Geschützfeuer hörbar.  Vor uns, auf einer kleinen Anhöhe, das Dorf Lagarde.

Vom Feind selber war noch nichts zu sehen.

Kaum, dass wir im Schritt weiter vorgehen,

erhielten wir auch schon feindliches Infanteriefeuer.

Durch die aufgekrempelten Rockärmel und den aufgeschlagenen Waffenrock hätte der weiße Futterstoff ein gutes Ziel abgegeben,

erzählten später die gefangenen Franzosen.

Der Befehl kam: Stellung! - In Zügen vorarbeiten!

Und nach dem dritten oder vierten Sprung: Gruppenweise vorgehen! Jetzt erst merkte man: es ist tatsächlich Krieg.

Bei jedem Sprung vorwärts wurde der Geschosshagel

dichter und lebhafter.

Mein Kamerad zur rechten Seite blieb beim nächsten Sprung liegen und der zur Linken stolperte mitten im Lauf.

Aber ungestüm und heftig wurde der Angriff vorgetragen.

Meine Gruppe macht einen Sprung!“, schrie unser Gruppenführer,

Sprung auf! Marsch! Marsch!

Schon stürzten wir weiter vor.

 

Noch immer kein Schussfeld.

Vor uns Gestrüpp, ein kleiner Bach, dahinter eine Böschung.

Hinwerfen, verschnaufen und -

endlich den Feind sichtbar vor der Mündung:

Visier 600 - Schützenfeuer!

Nun konnten wir das Feuer des Feindes mit Nachdruck erwidern.

Derselbe lag in Schützenlinie, kniete und stand hinter Kornkasten.

Die roten Hosen stachen gut ab,

und neue Schützenlinien kamen im Laufschritt angeschwärmt,

mit seitwärts flackernden Mantelschössen.

Weiter vor - Sprünge - Feuern - Sprünge und -

jetzt weicht der Feind.

Maschinengewehre unsererseits hatten schon längst eingesetzt,

und bald darauf setzt auch die eigene Artillerie ein, während die feindliche sich schon früher bemerkbar gemacht hat.

Das eigene wuchtige Artilleriefeuer stärkt den Rücken,

beim Feuern der Maschinengewehre werden die Sprünge

ausgeführt.“

 

      Nikolaus war wie die anderen mitten drin, wurde beschossen und hat zurückgeschossen, hat feindliche Soldaten fallen sehen

und mindestens vier Kameraden aus seiner Kompanie:

 

Musketier Heinrich Bleckmann aus Hücker

Musketier Franz Kilburger aus Malstatt-Burbach

Reservist Lorenz Mallick aus Lixingen

Musketier Karl Steinhäuser aus Grüningen

 

Und das hat ihn sicher verändert.

 

Hoffentlich seid Ihr noch alle so gesund wie ich.

Bete täglich mit den Kindern zu Gott, daß er uns wieder gesund und glücklich zusammenführen möge. Denn Christus sagt ja,

das Gebet der Kinder dringt durch die Wolken.

Macht Euch weiter keine Sorgen,

denn für den eine Kugel bestimmt ist, den trifft sie doch.

Nur Gottes Segen kann uns davor bewahren.

Besten Gruß u Kuß

Dein dich ewig liebender Mann

Nikolaus

 

Ja, Lagarde hat ihn verändert.

 

      Nach Lagarde kam das Regiment für ein paar Tage zum Ausruhen in Reserve. Am 15. August führte ein Divisionsbefehl das Regiment weit zurück bis hinter Dieuze, ihrem Ausgangspunkt. Die Männer, die die taktische Situation nicht kannten, gehorchten murrend. Was sie nicht wußten: Die Franzosen waren durchgebrochen und hatten die Frontlinie binnen weniger Tage gut 20 Kilometer nach Norden verschoben. Alle bisherigen Gefechte waren vergebens gewesen, alle Toten umsonst gestorben.

 

      Etwa zehn Kilometer nördlich von Dieuze kam es am 20. August zu einer Schlacht mit hohen Verlusten auf beiden Seiten. Das Regiment griff den kleinen Ort Biedesdorf an und verlor 201 Mann, davon 125 tot und 76 vermißt.

 

      Trotz der hohen Verluste gewannen die Deutschen die Oberhand. Die Franzosen zogen sich bis Luneville zurück, dicht gefolgt und immer wieder attackiert von den sofort nachstoßenden deutschen Truppen. Diese Verfolgung dauerte bis 23. August, einem Sonntag. Nikolaus schrieb seinen letzten Brief nach hause. Den genauen Ort kennen wir nicht.

 

Frankreich den 23.8.14

Liebe Frau!

Habe Deine Karte u. auch Brief gestern erhalten.

Bis jetzt ist das Kriegsspiel noch gut verlaufen und wird hoffentlich mit Gottes Hilfe doch auch weiter gutgehen.

Bis jetzt haben wir 3 Gefechte mitgemacht. 2 bei Lagarde und 1 bei Biedesdorf. Niclas habe ich noch nicht getroffen. Die andern aus dem Dorfe leben noch alle.

Beste Grüße Dein d. lb. Mann

Gruß an Pappa u Kinder

 

      Am nächsten Tag wurde die Verfolgung wieder aufgenommen, das Regiment 138 immer vorneweg. Am 25ten schlugen die Franzosen zurück, konnten sich aber nicht behaupten. Unter schweren Verlusten wurden sie von den deutschen Truppen zurückgeschlagen. Moyen, Magnieres und St. Pierremont wurden besetzt. Die Verluste des I.R. 138 waren erheblich: 11 Tote, 206 Verwundete, 50 Vermißte.

      Am nächsten Morgen um 3.20 in der Frühe versammelte sich die Division auf den Höhen von Magnières. Vor ihnen lag das Tal der Mortagne. Dieses Flüßchen, das von Nordwest nach Südwest verlief, bildete kurze Zeit eine natürliche Grenze zwischen den Deutschen und den Franzosen.

      Parallel zum Fluß verlief auf der anderen Seite die Eisenbahn von Luneville nach Süden. Das Tagesziel war die Einnahme einer kleinen Ortschaft namens Deinvillers. Der Grund dürfte die Brücke gewesen sein, die nahe des Bahnhofs die Mortagne überquerte.

      Das Flüßchen war zwar nur 6-8 m breit, aber gut 1,20 m tief mit steilen Ufern und schlammigem Untergrund.

 

Major von Kalckreuth, Chef der 2. Kompanie, I. Bataillon::

      Um 7 Uhr erfolgte der Vormarsch gegen Deinvillers. Rechts von uns ging I.R. 97 vor. Auf dem Gefechtsfelde vom vergangenen Tage lagen noch eine Menge Toter umher, teilweise mit scheußlichen Verletzungen. Die vorliegenden Waldstücke hatte der Feind geräumt. Der Bahnhof Deinvillers wurde kampflos erreicht.

      Soweit der Blick von oben. Unten dabei war der Gefreite Hans Schmidt: „Bei dem weiteren Vormarsch kamen wir an dem Bahngelände von Deinvillers vorbei, überquerten die Gleise und schon wurden wir von feindlichem Schrapnellfeuer empfangen. Nach links abschwenkend gelangten wir durch ein Wiesental in einen Wald. Vordringend bis zum Waldrand blieben wir in Gruppenkolonnen liegen. Die 5. und 7. Kompanie wurden von Hauptmann Riemann geführt. Das feindliche Artilleriefeuer wurde immer heftiger. Wir schwärmten aus und gelangten in das Dorf. Von links kamen Teile der 1. Kompanie unter Hauptmann Meißner. In langen Sprüngen ging es weiter nach rechts zum Dorf Ausgang. Um an diesen Ausgang zu gelangen, mussten wir über eine Brücke, die besonders gut unter Infanterie Feuer lag. Wir kamen in langen Sätzen hinüber. Am Dorfausgang stießen wir auf eine Dichte Schützenslinie vom Regiment 97. Es kam der Befehl: Regiment geht vorläufig nicht weiter vor. Der Gefechtslärm flaute ab, bis Hauptmann Meißner befahl, weiter vorzugehen. Hinter einer Friedhofsmauer hervor springend, erhielten wir starkes Flankenfeuer. Um besseres Schussfeld zu bekommen, lief ich ungefähr 80-100 m nach rechts auf eine Erhöhung. Der Gegner kamen in unserem Feuer nicht vorwärts.

      Wiederum waren die Verluste des I.R. 138 immens:

      19 Tote, 222 Verwundete und 121 Vermißte.

 

Einer der 121 war mein Urgroßvater.

 

Wie ist er gestorben?

      Was genau mit ihm geschah, wird auf ewig ein Geheimnis bleiben. In Bertrimoutier hat er kein Einzelgrab erhalten. Er ruht in einem der beiden Massengräber, die für die 5.506 Gefallenen, die dort liegen, eigentlich viel zu klein sind. In der Regimentsgeschichte steht, daß er am 26. August 1914 bei St. Pierremont gefallen ist. Aber die Schilderungen im Buch berichten nicht von Kampfhandlungen in St. Pierremont. Für das Gefecht bei Deinsvillers war St. Pierremont Aufmarschzone der Deutschen.

 

 

      Vielleicht ist auch der mutmaßliche Sterbetag „26. August“ falsch. Die Kämpfe am Vortag bei St. Pierremont werden als sehr heftig beschrieben; die deutschen Truppen mußten durch schweres Artilleriefeuer vorrücken.

      Wir werden es nie erfahren.

 

      Aus dem Infanterieregiment 138 fielen im Ersten Weltkrieg 98 Offiziere, 316 Unteroffiziere und 2.456 Mannschaften.

 

 

Wie hat seine Frau vom Verschwinden ihres Mannes erfahren?

 

      Vermutlich gar nicht. Sie wird es geahnt haben, als nach dem Brief vom 23ten August keine weiteren Nachrichten mehr eintrafen. Vielleicht hat ihr einer der beiden anderen Männer aus Baltersweiler, August Stabler oder Jakob Stoll, eine Nachricht geschickt, daß ihr Mann verschollen ist (auch wenn ein solcher Brief sich nicht erhalten hat).

 

 

 

      Sein Name erscheint in der 36. Ausgabe der „Deutschen Verlustlisten“, veröffentlicht am 22. September 1914.

      Warum es zu der Verzögerung kam, erläutert in sehr gefühlsbetontem Beamtendeutsch eine Bekanntmachung auf der Liste:

       „1) Die Verlustlisten werden nach Eingang beim Zentralnachweisebureau des Kriegsminsteriums baldmöglichst veröffentlicht; eine Zurückhaltung derselben findet nicht statt. Infolge des überaus raschen Vorschreitens der Armeen sind die Truppenteile selbstverständlich nicht in der Lage, die Listen sogleich nach einem Gefecht einzureichen, daher öfters ein verhältnismäßig spätes Eintreffen in Berlin. Von mehreren Regimentern usw. sind bis jetzt überhaupt noch keine Verlustlisten eingegangen.

       2) Die Namen der Gefechte werden von jetzt ab, soweit sie mit Sicherheit bekannt sind, in den Verlustlisten angegeben werden.

       3) Die bei den Namen der Verwundeten usw. angeführten Orts= und Kreisnamen beziehen sich auf den Geburtsort des Betreffenden.

       Berlin, den 19. September 1914

       Das Kriegsministerium. N.B.“

 

      In der übernächsten Ausgabe des St. Wendeler Volksblattes erschien sein Name dann auch in der Verlustliste für den Kreis St. Wendel.

 

      Was genau Oma Lisa unternommen hat, um etwas über das Schicksal ihres Mannes zu erfahren, kann ich nur erahnen. Ich kenne Briefe aus Ameria aus dem 2. Weltkrieg, die verzweifelte Eltern an die Regierung schrieben, um etwas über den Verbleib ihrer Söhne zu erfahren. Diese Briefe werden in den jeweiligen Personalakten der Regierung bis heute aubewahrt. Aber die meisten Akten der deutschen Soldaten des Ersten Weltkrieges wurden während des Zweiten Weltkrieges in Berlin vernichtet.

      Vor einem guten Jahr hat das Rote Kreuz seine Karteikarten aus dem 1. Weltkrieg eingescannt und recherchierbar ins Netz gestellt.

[//grandeguerre.icrc.org/en/File/Search/#/1/2/227/0/German/Military/]

      Dort fand ich auf verschiedenen Karten Hinweise dafür, daß nach Nikolaus gesucht wurde.

 

 

 

      Die Anfrage kam von Heinrich Born, Landratsamt St. Wendel, Rheinland, Allemagne. Heinrich Born war Amtmann in St. Wendel und außerdem ein Cousin mütterlicherseits meiner Oma Lisa.

      Ob diese Anfrage zu einem Ergebnis kam, bleibt ungewiß. Sie sehen die Ziffern rechts oben auf der Karte. Das sind Querverweise zu Registern, die die Papiere enthalten, um die es hier geht. Das Problem ist: die Register gibt es nicht mehr.

      Wie wir zuhause sagen: Dò krésche die Nas lang gemachd.

 

      Auf der nächsten Karte geht es um eine Anfrage, die ein Herr namens Franz Maier aus Heinitz gestellt hat - bei uns weiß kein Mensch, wer das ist.

 

      Etwas Neues erfahren wir aber doch: die Nummer der Erkennungsmarke: 184. Dazu gleich mehr.

      In der Schlacht um Deinvillers fielen allein beim IR 138 9 Soldaten, 121 wurden vermißt. Andere Einheiten werden zum Blutzoll beigetragen haben, so daß weitaus mehr als 12 Deutsche gefallen sind. D.h. die deutschen Truppen haben nach dem Kampf die Gefallenen eingesammelt. Jedenfalls die, die sie ad hoc finden konnten.

      Nicht gefunden wurden 12 Tote, zu denen auch mein Urgroßvater zählte.

      Ein Plan, den ich von der Bürgermeisterin von Deinvillers erhalten habe, Mme Lucette Michel, zeigt den Ort Deinvillers und die dort geborgenen französischen und deutschen Soldaten. Das geschah im Frühjahr 1921 oder kurz danach.

      12 Leichen wurden dort geborgen, leider sind die Namen nicht verzeichnet.

 

      Die Geborgenen wurden eingesammelt und nach Betrimoutier geschafft, wo im März 1921 von den französischen Militärbehörden der deutsch-französische Soldatenfriedhof Bertrimoutier als Sammelfriedhof angelegt wurde. Auf ihm fanden die während der Kämpfe provisorisch bestatteten Gefallenen, deren Gräber in einem Umkreis von bis zu 40 Kilometern verstreut lagen, ihre letzte Ruhestätte.

      Mein Urgroßvater wurde im sog. „Kameradengrab“ beigesetzt (Kameradengrab hört sich auf jeden Fall besser an als Massengrab), vermutlich weil man nicht genug von ihm fand, um ein Einzelgrab zu rechtfertigen. Wenn das zutrifft, gehe ich davon aus, daß er von einer Artilleriegranate voll getroffen wurde, so daß sein Leichnam nach dem Kampf nicht geborgen werden konnte.

 

      Wie sie ihn identifziert haben werden? Vermutlich anhand seiner Erkennungsmarke - Sie erinnern sich an die Karte vom Roten Kreuz.

      Erste Arbeiten zur Verbesserung des Zustandes des deutschen Teils des Friedhofes führte der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge (VDK) auf Grund einer Vereinbarung mit den französischen Militärbehörden über die Behandlung gemeinsamer Friedhöfe vom Jahre 1928 aus. Allerdings blieb das Problem einer dauerhaften Kennzeichnung der deutschen Gräber infolge Devisenmangels und des 1939 ausbrechenden Zweiten Weltkrieges zunächst ungelöst.

      Nach Abschluss des deutsch-französischen Kriegsgräberabkommens von 1966 konnte der VDK die endgültige Gestaltung der deutschen Soldatenfriedhöfe des Ersten Weltkrieges in Frankreich vornehmen. 1980 wurde das Gelände gründlich kultiviert, und es folgte der Austausch der bisherigen provisorischen Holzgrabzeichen gegen Kreuze aus Metall mit eingegossenen Namen und Daten der hier Ruhenden.

      Wenn Sie sich nun fragen, wieso das Grab auf dem Friedhof 1921 eingerichtet wurde und wir nicht wußten, ob es ein Grab gab und wo das lag. Nun, wir haben die falsche Stelle befragt. Mein Vater hatte 2002 die Wast angeschrieben, und von dort die Antwort erhalten, die Grablage sei unbekannt. Hätte er das VDK gefragt, die hätten es ihm sagen können.

 

Die Hinterbliebenen

      In Baltersweiler hatte es Elisabeth Geiger geschafft, mit ihren drei vier Kindern und dem im Haus wohnenden Vater den Krieg zu überstehen. Zuwendungen in Form von Renten hatte sie keine bekommen, ihr eigener Status war noch nicht geklärt. In einem Notariatsakt vom Februar 1918 wird sie „Elisabeth Kirtz, Ehefrau des im Kriege vermißten Hüttenarbeiters Nikolaus Geiger“. Nicht Witwe. Das hat sich im März 1926 geändert. In einem anderen Notariatsakt wird sie „Elisabeth Kirz, Witwe des Hüttenarbeiters Nikolaus Geiger“ genannt.

      D.h. der Tod ihres Mannes muß zwischen 1918 und 1926 bestätigt worden sein oder sie hat ihn für tot erklären lassen. Vielleicht haben ja die Franzosen nach Anlage des Friedhofes in Bertrimoutier und Überführung der sterblichen Überreste von Nikolaus Geiger eine Mitteilung geschickt.

      Haben sie nicht, jedenfalls habe ich nirgendetwas etwas dazu finden können, und niemand - auch offiziellerseits - weiß etwas von einem solchen Procedere.

      Vielleicht wurden die in Bertrimoutier Bestatteten in einem französischen Standesamt erfaßt, und diese Information kam nach Deutschland.

      Auch das ist nicht der Fall. Die Standesämter von Deinvillers, dem benachbarten St. Pierremont und Bertrimoutier haben nie keine deutschen Gefallenen beurkundet. Im Standesamt in Namborn ist der Tod übrigens auch nicht beurkundet.

      Bleibt als letzte Möglichkeit noch, daß sie ihn hat für tot erklären lassen. Diese Maßnahme führt das Amtsgericht durch. Das zuständige ist das in St. Wendel. Dort hat Amtmann Weber den ganzen Keller links gemacht. Es gibt einige Toderklärungen auch aus jener Zeit, aber keine für Nikolaus Geiger. Toderklärungen sind für das Standesamt für einen Sterbeeintrag nicht ausreichend, da sie den Tod vermuten und von Amts wegen anerkennen, aber nicht tatsächlich feststellen. Dennoch erhält das Standesamt eine Mitteilung und trägt die Toderklärung meist im Geburtseintrag nach.

      Bei meinem Uropa findet sich kein solcher Hinweis.

      Und da wird es ganz dubios. Denn ich weiß sicher, daß meine Uroma Witwen- und Waisenrente bekommen hat. Ab April 1920. Die entsprechenden Unterlagen habe ich 2002 vom Landesamt für Jugend, Soziales und Versorgung in Saarbrücken erhalten. Die eigentlichen Papiere wurden vor langer Zeit vernichtet, aber die Karteikarten mit den relevanten Einträgen sind noch vorhanden.

      Mir liegen drei Karteikarten vor, die die Zeit von April 1920 bis Juni 1981 überspannen. Interessant ist die älteste Karte. Sie nennt uns die persönlichen Daten der betroffenen Person, also Nikolaus Geiger. Darunter kommt seine Ehefrau, darunter die Kinder.

 

      In der Vergrößerung sehen wir die Rentenbeträge, die sie erhält, und erfahren, daß es sich dabei um eine Witwen- und Waisenrente handelt.

      Aber wird die nicht normalerweise posthum, nach dem Tod, an die Angehörigen ausgezahlt? Wie ist der nun der Status von Nikolaus?

 

„Tag des Todes: 26.8.14 vermißt.“

 

      Im mittlerweile aufgehobenen § 1256 der Reichsversicherungsordnung heißt es, daß die Hinterbliebenen des Versicherten Witwen- und Waisenrenten erhalten, wenn für den Verstorbenen zur Zeit seines Todes die vorgeschriebenen verstechnischen Bedingungen erfüllt sind. Davon können wir bei Nikolaus ausgehen. Er war Arbeiter im Neunkircher Eisenwerk und damit sozialversichert. Er starb vor dem 01.06.1949, damit erhielt seine Witwe Witwenrente, da sie zur Zeit des Todes ihres Ehemannes mindestens vier waisenrentenberechtigte Kinder erzogen hat.

 

      Das Problem ist nur: Nikolaus war offiziell nicht tot. Aber seine Frau hat trotzdem Rente erhalten.  Warum?

 

Die Tafel im Dom

 

      Bleibt noch die Tafel im Dom, die ich schon anfangs nannte. Sie hat sich leider als die unergiebigste Quelle erwiesen. Sie führt 215 Soldaten auf, nennt ihren Namen, den Vornamen als Kürzel und das Jahr ihres Todes.

      Im Pfarrarchiv St. Wendel finden sich zwar Informationen über den Künstler, der hergestellt hat, allein die Liste der Namen findet sich nicht. Und es ist daher auch nicht nachvollziehbar, wie ausgerechnet diese Namen auf dieser Tafel erschienen sind.

 

      Ich habe in den Monaten umfangreiche Recherchen angestellt, um die Personen auf der Tafel zu identifizieren. Die Pfarrei St. Wendelin in St. Wendel umfaßte 1914 nicht nur die Katholiken aus der Stadt St. Wendel, sondern auch aus den benachbarten Orten Urweiler, Baltersweiler, Mauschbach und Oberlinxweiler, heute alles eigenständige Pfarreien. Ich habe deshalb im Standesamt St. Wendel angefangen und stieß schon dort auf etliche Namen von Gefallenen, die definitiv katholisch waren und zur Pfarrei St. Wendelin gehörten, aber nicht auf der Tafel stehen. Im Standesamt Namborn habe ich die Toten aus Mauschbach, Urweiler und Baltersweiler herausgesucht. Und selbst in den Sterbebüchern der Pfarrei St. Wendelin finden sich Gefallene, die nicht auf der Tafel stehen. Der lateinische Text nennt sie „miles Germanicus“ (auch „miles Gallicus“).

 

 

      Lassen Sie mich als Beispiel den Eintrag „Blattau, L. 1.11.“ nehmen.

      Der Name ist für St. Wendel sehr ungewöhnlich. Im Standesamt St. Wendel habe ich ihn nicht gefunden, im Standesamt Namborn auch nicht. Im Pfarramt St. Wendel finde ich ihn Ende 1914. Dort steht er als „Blatteau“, was sich im Nachhinein als falsch herausstellte: Mit vollem Namen heißt er „Franz Leo“ und war Gefreiter im IR 137.

      Er stammte aus Heiligenwald. Über Michaela Becker vom Wellesweiler Arbeitskreis für Geschichte habe ich die Eltern erfahren und daß er zunächst vermißt und 1918 für tot erklärt wurde:

 

Franz Leo Blattau

Sohn von Ferdinand Ludwig Alexis Blattau und Maria Huber

geb. 27.02.1893 Heiligenwald

vermißt 01.11.1914

Bergmann in Grube Heinitz

Gefreiter

2. Kompanie,

4. Westfälisches Infanterie-Regiment Graf Barfuß Nr.17

 

      Das Regiment wurde nach Johann Albrecht Reichsgraf von Barfuss, geb. 1635, gest. 1704, benannt. Er war Befehlshaber im Türkenkrieg. Das Regiment ist das 4. der Infanterie-Regimenter aus der Provinz Westfalen und das 17. der preußischen Armee.

      In St. Wendel hat Blattau nie gelebt. Warum taucht er dort im Sterbebuch und auf der Gefallenentafel auf? Ich weiß es nicht.

      Andererseits finde ich auf der Tafel Namen, die ich sonst nirgends finde - gelegentlich mal einen auf den schon genannten Verlustlisten. Und das dürfte der Grund sein, warum mein Urgroßvater dort genannt ist - er gehörte zur Pfarrei und stand auf einer Verlustliste, und so kam sein Name auf die Tafel.

      Des Rätsels Lösung erfuhr ich beim Gespräch mit einem Mitarbeiter des Landesamts für Jugend, Soziales und Versorgung in Saarbrücken: Man ging damals einfach den kleinen Dienstweg. Die Witwe stellte einen Antrag und gab an, ihr Mann sei seit August 1914 vermißt. Die Behörde fragte im Ordnungsamt in St. Wendel nach und erhielt die Bestätigung dieser Angabe. Und zahlte die Rente aus. Alle paar Jahre ließ sie sich vom Ordnungsamt den Status des Vermißten bestätigen, irgendwann nur noch pro forma.

      Die Rente wurde einige Male erhöht. Ab 1930 - mit Volljährigkeit der ältesten Tochter - fiel ihre Waisenrente weg, nacheinander auch die der anderen Kinder. Die Beträge, die ausgezahlt wurden, lassen sich nicht immer wirklich nachvollziehen, jedenfalls nicht ohne die entsprechenden Papiere. Der Grundbetrag lag 1956 bei 9.600 Franken monatlich, hinzu kam in nicht nachvollziehbaren Abständen eine sog. Ergänzungsrente, die aber nicht jedes Jahr ausgezahlt wurde (1956: 4.700 Franken, 01.05.1957: null, 01.09.1957: 960 Fr.). Dann kam der Anschluß des Saargebietes an die Bundesrepublik Deutschland, bei dem u.a. der Saarfranke an die D-Mark angepaßt wurde. Aus 100 Franken wurden 0,8507 DM. Elisabeths Rente am 1. Juni 1959 betrug 18.324 Franken, am 1. August 1959 hatte sich der Betrag auf 133,84 DM „reduziert“. Die Ergänzungsrente nannte sich jetzt Ausgleichsrente. Als Elisabeth 1966 starb, stand der Betrag bei 162 DM pro Monat.

 

Epilog

 

      Was bleibt, ist ein Leben, das nach 30 Jahren abrupt und viel zu früh zu Ende ging. Seine Ehefrau überlebte Nikolaus um 52 Jahre, ehe sie 1966 mit 83 Jahren starb.

      Sein Vater Jakob wurde 86, seine Mutter Katharina 81. Und außer seinem jüngsten Sohn Erich, der im Alter von 29 in Russland fiel, erreichten auch seine Kinder ein hohes Alter:

Johanna wurde 74,

mein Opa Walter 92

und Tante Trina 100 Jahre, 4 Monate und 12 Tage alt.

 

      Ziehe ich daraus meinen Schluß, dann hätte er noch viele Jahre seines Lebens vor sich gehabt.

 

Aber wir werden nun einmal nicht gefragt.

 

Denn es geht alles den Weg,

den uns Gott beschert hat.

 

 

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Der Weg, den uns Gott beschert hat

 

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