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21. Jahrhundert -> 2021 St. Josefstag

Freitag, 19. März.

„Ich habe heute abend Kirchendienst“, erzählt mir meine Frau beim Frühstück.

Ich bin erstaunt: „Am Freitag? Im Dom?“ Freitags gibt’s normalerweise keinen Gottesdienst. „Ja“, meint sie, „mit Elfie zusammen. Irgendetwas ist heute, was Besonderes.“

„Klar. Heute ist der 19te März, St. Josefstag.“ Das sagt ihr nichts.

„Heute vor einem Jahr war das ein Donnerstag. Gestern vor einem Jahr haben sie mir meinen Vortrag für heute vor einem Jahr abgesagt. Über das, was heute vor einem Jahr vor 75 Jahren geschehen ist.“

Erneut ernte ich einen fragenden Blick.

„Heute vor 76 Jahren haben die Amerikaner St. Wendel eingenommen.

Vor einer halben Stunde (und 76 Jahren) sind sie dort unten auf der Alsfassener Straße entlang geschlichen. In Stiefeln mit Gummisohlen so gut wie lautlos. Jeweils einer auf jeder Straßenseite, das Gewehr in der Vorhalte, leicht gebückt, völlig angespannt - mit allen Sinnen auf jedes leiseste Geräusch lauschend, auf jede kleinste Bewegung reagierend.

Aber sie hörten so gut wie keine Geräusche und sahen auch kaum eine Bewegung. Sie meinten zu wissen, daß sie beobachtet wurden, aus Fenstern oder Türen oder sonstigen Ritzen. Aber es hat sie kaum jemand gesehen. Klar, die Leute waren neugierig, aber größer als ihre Neugierde war die Angst um das eigene Leben.

Dein Papa hat mir das erzählt. Er hat die Amerikaner auch nicht gesehen, als sie die Straßen entlangkamen. Er saß wie die meisten Leute aus Alsfassen im Hauskeller und fürchtete sich fast zu Tode vor dem, was kommen konnte. Oben im alten Haus auf dem Hügel an der Kreuzung zum Falkenbösch. Die Spannung - soll ich besser sagen „die Angst“ - war enorm. Denn was hatte man nicht alles über den Feind gehört, diese Bestie in Menschengestalt, die alle Männer und Kinder sofort umbringen würden und die Mädchen und Frauen …“

Nun gut, daß hätte ich zu meiner Frau gesagt, wenn sie nicht nach dem Wort „eingenommen“ nach oben verschwunden wäre, um sich im Homeoffice auf ihr Tagwerk vorzubereiten.

Eine halbe Stunde später bringe ich meine Schwiegermutter Rita nach Bliesen in die Kurzzeitpflege in das Haus hinter der Kirche. Als ich bei EuroSchu den langen Hang hinauf ins Dorf fahre, sehe ich nicht die Überreste der amerikanischen Vorhut, die hier gestern vor 76 Jahren von einer Geschützstellung nahe der Rassiersmühle in direktem Beschuß zerstört wurde, sehe ich nicht die ausgebrannten Trümmer der beiden Panzer und der Halbkettenfahrzeuge, in denen zahlreiche G.I.s das Leben verloren, sehe ich nicht das große Loch im damals ersten Haus auf der rechten Seite, wo die erste Granate landete und einen großen Fetzen der Wand herausriß, bevor die nächsten Geschosse Menschen und Maschinen zerfetzten, rieche ich nicht den Gestank von Öl, Benzin, Blut und verbranntem Fleisch, der nach 12 Stunden immer noch in der Luft hing.

Nichts davon sehe ich jetzt oder sah ich je, und es gibt keine Fotos davon und nur bruchstück- und schemenhafte Überlieferungen. Es war nur eine kleine Episode in einem langen Krieg, der nach sechs Jahren endlich die Heimat erreicht und darüber hinweggerollt war. Sein Ende war in Sicht, aber für die Menschen zuhause - hier - fing er gerade erst an. Und nichts würde mehr so sein wie vorher.

Das kommt wohl öfters vor.

Alsfassen am Tag des hl. Josef 2021

Roland Geiger

Historische Forschungen · Roland Geiger · Alsfassener Straße 17 · 66606 St. Wendel · Telefon: 0 68 51 / 31 66
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