Schriftzug
19. Jahrhundert -> 1881-1917 das Schiedsmannsregister

Beleidigungen und üble Nachrede - das preußische Schiedsmannswesen anhand praktischer Beispiele

Script eines Vortrages, den ich im Oktober 2020 beim Genealogischen Seminar auf Schloß Dhaun gehalten habe.

Verhandelt zu St. Wendel am 2 Februar 1900, Nachmittags 5 Uhr.
[Laur]
Vor mir erschien der Dr. Karl Achenbach von hier und erklärte von der Maria Zawar von hier beleidigt worden zu sein dadurch, daß sie meiner Dienstmagd Maria Jove [Jovy] folgende beleidigende Aussage gemacht hat:
Es sei doch ein Arzt wie der andere. Dr. Achenbach habe von ihr verlangt, daß sie sich ausziehen und sich nackt auf den Sessel vor den Spiegel setzen solle, dies habe sie verweigert mit der Angabe, daß sie hierzu sich nicht hergebe.
Die Maria Zawar war vorschriftsmäßig geladen, erklärte jedoch vorher, sie würde nicht erscheinen, da sie den Herrn nicht beleidigt und obige Aussage nicht gemacht habe. Es war eine Sühne dadurch unmöglich. Vorgelesen, genehmigt und unterschrieben.
Dr. Achenbach
Laur

Hatten Sie schon einmal mit dem Schiedsmann zu tun? Nein, nun - ich schon. Als er abends anrief und sich vorstellte, dachte ich erst, er habe den Falschen erwischt und wollte ihm schon raten, meinen Vater anzurufen, der pfeife seit Jahren im lokalen Fußball. Das habe ich mir schließlich verkniffen, und das war gut so. Schließlich aber fragte ich ihn nur nach seinem Begehr.

Als ich dann am Termin der anderen Partei gegenübersaß, war ich noch der Meinung, wir würden beide unsere Argumente vortragen, und der Schiedsmann würde dann Recht sprechen, aber das ist nicht seine Aufgabe. Denn er ist kein Richter, er ist Vermittler. Er soll versuchen, beide Parteien zu versöhnen, einen Kompromiß finden.

Dieses Wort „versöhnen“ findet sich deshalb in den Protokollen stets im Begriff der „Sühne“, die bei uns heute eine ganz andere Bedeutung hat. „Sühne“ ist in unserem heutigen Sprachgebrauch eine Art Entschädigung des Schädigers an den Geschädigten. Oder manchmal steht sie auch für das Wort „Rache“.

Der Termin vor dem Schiedsmann hat zwei mögliche Ausgänge: es kommt zum Kompromiß, beide Parteien schütteln sich die Hand, und man geht friedlich auseinander mit einer Lösung, die beide Parteien genug zufriedenstellt. Beide haben Federn gelassen, auf Teile ihrer Forderungen verzichtet, aber so, daß sie beide damit leben können. Diese Übereinkunft wird in den Protokollen „Vergleich“ genannt.

Oder man findet keine Übereinkunft, eine Sühne kann nicht hergestellt werden, und beide Parteien trennen sich, entweder um den Streit auf sich beruhen zu lassen oder dickere Geschütze aufzufahren, also mit der Sache vor Gericht zu gehen.
Ich bin vor gut zwei Jahren, im Januar 2019, zu diesem Thema gekommen wie die Jungfrau zu dem Kinde. Willi Maas, der Wirt des Restaurants „Café Journal“ in St. Wendel, drückte mir ein altes Buch in die Hand - „schau Dir das mal an. Wenn Du nichts damit anfangen kannst, schmeiß es einfach weg“. Ich bin ihm sehr dankbar dafür. Ich finde es super, wenn Leute alte Bücher - auch wenn sie nichts damit anfangen noch sie lesen können - nicht einfach entsorgen, vor allem, wenn es um Handgeschriebenes geht.

Dieses „das“ war das erste St. Wendeler Protokollbuch, in dem die ersten fünf St. Wendeler Schiedsmänner in den Jahren 1881-1917 ihre Protokolle, also die Ergebnisse ihrer Bemühungen, niedergeschrieben haben. Ich habe das Buch ausgewertet, sprich: abgeschrieben, und ein paar Statistiken angefertigt und dann noch versucht, die handelnden Personen zu identifizieren und nach der Bearbeitung dem Stadtarchiv St. Wendel übergeben, wo es aber eigentlich nicht hätte landen sollen.

Alle im Buch enthaltenen Verfahren basieren auf der Schiedsmannsordnung, die in Preußen am 29. März 1879 verabschiedet wurde. Die Schiedsmannsordnung wurde seinerzeit von einem Herrn namens Heinrich Siegfried als Leitfaden für Schiedsmänner veröffentlicht.

Aus seiner Einleitung will ich Ihnen ein paar Stellen vortragen, ab und an etwas unserem heutigen Sprachgebrauch angepaßt:

Die Schiedsmannsordnung vom 29. März 1879.

Die Geschichte des Schiedsmannswesens beginnt im Jahre 1827, als Preußen noch etwas kleiner war. Schon 1808 stellten die Stände der Provinz Preußen einen Antrag, aus der Klasse der Gutsbesitzer sog. Friedensrichter für bestimmte Bezirke zu ernennen, welche in allen Rechtsstreitigkeiten einen Vergleichsversuch vorzunehmen hätten, u.a. um die Gerichte zu entlasten und Streitigkeiten schneller aus dem Weg räumen zu können. Dieser Antrag wurde mehr oder minder ignoriert und 1824 - 18 Jahre später - beim ersten Provinzial-Landtage des Königreichs Preußen erneut gestellt.

Gleichzeitig legte der damalige Ober-Präsident der Provinz einen „Entwurf zu einer Verordnung über die Anstellung von Schiedsmännern zur Schlichtung streitiger Angelegenheiten" vor. Am 13. Dezember 1826 verkündete die Regierung, daß die vorgeschlagene Einrichtung so einfach erscheine, daß mit ihrer Einführung in Preußen ein Versuch zu machen sei. Deshalb erhielt das Staatsministerium den Auftrag, den eingereichten Entwurf näher zu prüfen und sich über einen Plan einigen, der durch die Minister des Innern und der Justiz in den vier preußischen Regierungsdepartements versuchsweise zur Ausführung zu bringen sei.

Auf diese Weise entstand die erste Verordnung über das Institut der Schiedsmänner, erlassen im September 1827, beschränkt auf diese vier Departements, nach folgenden Grundsätzen:

Die Schiedsmänner sind dazu bestimmt, streitige Angelegenheiten auf gütlichem Wege zu schlichten. Die von ihnen geschlossenen Vergleiche haben dieselbe Wirkung wie die gerichtlichen; ihre Verhandlungen sind kosten- und stempelfrei. Den Parteien sollen auf diesem Wege die vielfachen Weitläufigkeiten und Kosten erspart werden, welche mit prozessualischen Erörterungen verbunden sind.

Das sind die Grundsätze, auf welchen das Institut beruht, und es wird nicht bezweifelt, daß es sich im Laufe der Jahre bewährt hat. Etwa 8200 Schiedsmänner verhandeln im Jahr ungefähr 200,000 Streitigkeiten und führen in der Hälfte der Sachen einen Vergleich zwischen den Parteien herbei.

Ursprünglich war es in den freien Entschluß der Parteien gestellt, „sich des Berufs des Schiedsmanns zu bedienen". D.h. sie konnten, sie mußten aber nicht.

Im April 1851 wurde dann das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten eingeführt

„In den Landestheilen, in welchen das Institut der Schiedsmänner besteht, soll eine Klage über Ehrverletzung und leichte Mißhandlungen, sofern sie nur im Wege des Civilprozesses verfolgt werden [also nicht von den Strafbehörden], von den ordentlichen Gerichten nicht eher zugelassen werden, als bis durch ein von dem Schiedsmann des Verklagten ausgestelltes Attest nachgewiesen wird, daß der Kläger die Vermittlung des Schiedsmannes ohne Erfolg nachgesucht hat."

Hiernach ist es also in den bezeichneten Provinzen notwendig, vor der Erhebung der Civilklage wegen Beleidigung und wegen leichter Körperverletzung die Vermittlung des Schiedsmanns zur Herbeiführung der Sühne nachzusuchen.

Diese Verpflichtung hat die Deutsche Strafprozeßordnung in ihrem ganzen Rechtsgebiet allgemein gemacht.

Dadurch wurde die preußische Landesregierung gezwungen, auf ihrem ganzen Herrschaftsgebiet eine Behörde zu schaffen, die solche Vergleiche herbeiführen konnte, und beide Häuser des Landtags stimmten der Regierung zu, daß das Schiedsmannsinstitut für diesen Zweck am Geeignetsten sei.

Das vorliegende Gesetz dehnte die Gültigkeit des Instituts unter Beseitigung aller lokalen Verordnungen auf den ganzen Staat aus. Gleichzeitig aber wurde beschlossen, das Schiedsmannsinstitut als Vergleichsbehörde in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten beizubehalten, bzw. dasselbe mit dem Recht der Schiedsmänner, Vergleiche in Streitigkeiten über das Mein und Dein zu schließen, auch in den noch nicht angeschlossenen Provinzen einzuführen.

Nun steht aber im §. 471 der Deutschen Civilprozeßordnung, daß ein Kläger seinen Gegner zum Zweck eines Sühneversuches vor das zuständige Amtsgericht laden kann.
Hintergrund war der, daß bei einem nicht zustandekommenden Vergleich auf Antrag der beiden Parteien der Rechtsstreit sofort verhandelt würde.

D.h. zwischen dem Institut der Schiedsmänner und den Amtsrichtern entstand eine Konkurrenz.

Beide Häuser des Landtags, die gegen das Gesetz nichts ausrichten konnten, stimmten für die Beibehaltung der Schiedsmänner. Sie argumentierten, daß der Amtsrichter im Allgemeinen mehr mit Arbeiten belastet sein würde, als es der bisherige Einzelrichter gewesen ist, daß als die Beibehaltung der Schiedsmänner in civilrechtlichen Streitigkeiten geeignet sei, den ordentlichen Richtern die Arbeitslast zu erleichtern. Auch werde dem Amtsrichter häufig die Zeit fehlen, um mit den Parteien deren Angelegenheiten in erforderlicher Ruhe zu berathen. Zudem verursache der richterliche Sühneversuch Kosten, während der Sühneversuch vor dem Schiedsmanne kostenfrei erfolge.

Das Institut der Schiedsmänner habe sich in den alten Provinzen bewährt. Es empfehle sich nicht, diese Provinzen desselben zu berauben, und von diesem Standpunkte aus sei dann gegründete Veranlassung, es auf die neuen Provinzen, denen man nicht weniger bieten dürfe, auszudehnen.

Welches Gewicht auf die angebliche Ueberlastung der Bürger mit Ehrenämtern zu legen sei, beweise der Umstand, daß es viele Schiedsmänner gebe, welche in diesem Amte alt geworden seien, und welche dadurch bezeugten, daß ihnen das Amt recht wohl erträglich sei. Für die Schiedsmänner ergebe sich auch nach Einführung der Deutschen Civil-Prozeß-Ordnung noch ein großes Feld segensreicher Wirksamkeit. Namentlich seien sie die geeigneten Persönlichkeiten, kleine Streitigkeiten unter Nachbarn und Familiengliedern auszugleichen. Hierzu seien sie aus ihrer Lokal- und Personenkenntniß heraus oft viel geschickter als der Richter. Nach dieser Richtung hin sei auch ihre Thätigkeit in den neuen Provinzen wünschenswerth. Zudem würden die Prozesse künftig nicht billiger, sondern kostspieliger werden, und man würde daher, wie anzunehmen, zur Thätigkeit der Schiedsmänner noch häufiger die Zuflucht nehmen, als bisher. Auch gebe es viele Leute, welche eine ehrenwerthe Scheu vor jedem Prozeß und vor jedem Betreten des Gerichts haben, und die deshalb immer leicht geneigt seien, einen billigen Vergleich der Gefahr eines Prozesses vorzuziehen. Warum solle man es dergleichen Personen verschließen, ihre Streitigkeiten auf friedlichem Wege vor dein Schiedsmann zum Austrage zu bringen? Thatsächlich würden viele Vergleiche vor und von Schiedsmännern geschlossen, welche nicht protokollirt und doch ausgeführt würden. So heilsam wirke das Ansehen vieler Schiedsmänner.

Eine Beschränkung der Schiedsmänner auf Jnjuriensachen drücke ihre Stellung herab und werde es schwieriger machen, bei tüchtigen Männern das rechte Interesse für das Amt zu sichern.

Mit dem Institut der Schiedsmänner ist auch die Betheiligung des Laienelements in die Rechtsfindung für bürgerliche Streitigkeiten wirksam eingeführt und schließt sich die vorliegende Schiedsmannsordnung auch insofern an das durch die Strafprozeßordnung eingeführte Institut der Schöffengerichte an, als sowohl Schöffen und Geschworene aus der Wahl der Gemeindevertretung hervorgehen sollen. Es ist zu hoffen, daß unter der Herrschaft des neuen Gesetzes das Institut der Schiedsmänner noch häufigere und erfolgreichere Anwendung finden wird als vorher.

Diese Überlegungen zugrundelegend wurde die Schiedsmannsordnung vom 29. März 1879 verabschiedet.


Wer konnte nun Schiedsmann werden:
Das wird in Paragraph 2 geregelt:

Das Amt des Schiedsmanns ist ein Ehrenamt.

Zu demselben ist nicht zu berufen:
1. wer das dreißigste Lebensjahr nicht vollendet hat;
2. wer nicht in dem Schiedsmannsbezirke wohnt, für welchen die Berufung erfolgt;
3. wer in Folge strafgerichtlicher Verurtheilung die Befähigung zur Bekleidung öffentlicher Aemter verloren hat;
4. wer in Folge gerichtlicher Anordnung in der Verfügung über sein Vermögen beschränkt ist.

Gewählt wird der Schiedsmann durch die Gemeindeversammlung, in selbstständigen Gutsbezirken durch den Gutsvorsteher.

Die Wahl erfolgt auf drei Jahre. Bis zum Amtsantritte des Neugewählten bleibt der bisherige Schiedsmann in Thätigkeit. Die Gewählten bedürfen der Bestätigung durch das Präsidium des Landgerichts, in dessen Bezirk sie ihren Wohnsitz haben.

Die Schiedsmänner werden bei dem Amtsgerichte ihres Wohnsitzes auf die Erfüllung ihrer Obliegenheiten eidlich verpflichtet. Der Eid wird dahin geleistet: „Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, die Pflichten eines Schiedsmanns getreulich zu erfüllen, so wahr mir Gott helfe."

§. 6.
Die Schiedsmänner haben bei Ausübung ihres Amts die Rechte von Beamten.

§. 7.
Das Recht der Aufsicht über einen Schiedsmann steht zu dem Präsidenten des Landgerichts hinsichtlich der in dem Landgerichtsbezirk wohnenden Schiedsmänner.

§. 8.
Zur Ablehnung oder Niederlegung des Amts eines Schiedsmanns vor Ablauf der Wahlperiode berechtigen folgende Entschuldigungsgründe:
1. das Alter von sechzig Jahren;
2. die Verwaltung des Schiedsmannsamts während der voraufgegangenen drei Jahre
3. anhaltende Krankheit;
4. Geschäfte, die eine lange oder häufige Abwesenheit vom Wohnorte mit sich bringen;
5. die Verwaltung eines unmittelbaren Staatsamts;
6. sonstige besondere Verhältnisse, die nach billigem Ermessen eine gültige Entschuldigung begründen.

§ 9. Ein Schiedsmann ist seines Amtes zu entheben, wenn Umstände eintreten oder bekannt werden, bei deren Vorhandensein die Berufung nicht erfolgen soll. Er kann auch aus anderen erheblichen Gründen seines Amtes enthoben werden.

§. 10.
Wer sich ohne einen der im §. 8 enthaltenen Entschuldigungsgründe weigert, das Amt des Schiedsmanns zu übernehmen oder das übernommene Amt während der vorgeschriebenen regelmäßigen Amtsdauer zu versehen, kann für einen Zeitraum von drei bis sechs Jahren der Ausübung seines Rechtes auf Theilnahme an der Vertretung und Verwaltung seiner Gemeinde für verlustig erklärt und stärker als die übrigen Gemeindeangehörigen zu den Gemeindeabgaben herangezogen werden.

§. 11.
Jeder Schiedsmann erhält einen Stellvertreter. Die Stellvertretung kann dahin geordnet werden, daß bestimmte Schiedsmänner sich wechselseitig vertreten.

Im §. 7. haben wir gehört, daß der Schiedsmann dem Chef des Landgerichts unterstand.

Deshalb gehört das Protokollbuch eigentlich in das Archiv des hiesigen Landgerichts resp. in unserem Fall des Amtsgerichts. Warum es dort gefunden wurde, wo es gefunden wurde? Nun, Herr Maas erhielt es vom Eigentümer des Hauses, in dem sich heute in St. Wendel die Gastwirtschaft „Bruder Jakob“ befindet. Und das war das Wohnhaus des letzten Schiedsmanns, der das Buch beschrieben hat:

Heinrich Laur (1853-1927) und Schiedsmann von 1895 bis 1917 betrieb erst eine Dampfgerberei auf der Lehwies, wo auch das erste Wohnhaus der Familie stand.

(Gerberprozeß beschreiben und wie es dort stank)

Aber 1917 muß es ihm dort doch zuviel gestunken haben, denn er kaufte von Heinrich Paqué dessen Wohnhaus in der Schloßstraße 5, in dem er eine Gastwirtschaft betrieb (heute „Bruder Jakob“). Laur, dessen Einträge von 1917 die letzten im Buch sind, hat das Register nie beim Amtsgericht abgegeben, weshalb es bei Renovierungsarbeiten in der Schloßstraße 5 gefunden wurde.

Viele Verfahren in diesem Protokollbuch endeten ergebnislos.

Ob daraufhin Klage erhoben wurde, ist in den meisten Fällen unbekannt, da die Unterlagen der zuständigen Gerichte jener Zeit entweder nicht mehr vorhanden oder (noch) unzugänglich sind.

Schieds-mann

Anzahl

Sühne

Ergebnis-los trotz Ausspra-che

ergebnislos
wegen Nichterscheinens

Eschrich

29

12

15

2

Hallauer

42

3

9

30

Jochem

24

3

10

11

Bruch

45

10

18

17

Laur

249

36

63

150


Wissen Sie noch, wo Laur wohnte? In einem der Gerbhäuser?
Da wundert es mich eigentlich nicht, daß so viele zu seinen Terminen nicht erschienen sind. Im Verhältnis zu den anderen.
Da gewinnt das Sprichwort „Der Termin stinkt mir!“ ganz neue Bedeutung.

Dr. Achenbach, von dem wir anfangs hörten, taucht noch in zwei weiteren Fällen auf.
Dr. Achenbach, mit vollem Namen Conrad Karl, wurde am 15.03.1876 in Rotenburg an der Fulda geboren. Er kam am 12. Februar 1896 von Marburg nach St. Wendel und eröffnete eine Arztpraxis in Kelsweilerstraße 7 im Haus von Peter Josef Knoll. Am 5. September 1908 zog er nach München um, wo er noch 1935 als praktischer Arzt praktizierte.

Ohne das Schiedsmannsbuch wäre ich nie auf ihn aufmerksam geworden.
No 289.
Verhandelt zu St. Wendel den 8 April 1906, Nachmittags 2 Uhr.
[Laur]
Es erschien vor mir der Bergmann Jacob Schunath von hier und erklärte, von dem Bergmann Johann Adam Brehm von hier beleidigt worden, weil letzter behauptet, ich Schunath hätte Ihn Brehm beim Dr. Achenbach denunzirt, indem ich - Schunath - demselben - Achenbach - gesagt hätte, wenn er Brehm sich nicht selbst geholfen hätte, hätte er frecken können, wann er gewollt hätt.

[Dieses „wann er gewollt hätt“ ist reine Umgangssprache: „Do kannsche mache, was de wéllschd“, sagen wir, um die Vergeblichkeit dieses Handelns auszudrücken.]

Diese Aussage ist vollständig erfunden und hat den Zweck, mich bei meinem Kameraden in ein schlechtes Licht zu stellen.
Brehm war vorschriftsmäßig geladen, erklärte jedoch vorher, daß er nicht erscheinen würde und wahr ein Versuch der Sühne unmöglich. Vorgelesen, genehmigt und unterschrieben.

Im zweiten Fall taucht Achenbach wieder als Kläger auf:

No 296.
Verhandelt zu St. Wendel den 4 März 1907, Nachmittags 6 Uhr.
[Laur]
Es erschien vor mir Dr. Achenbach von hier und erklärte, von dem Herrn Riegel von hier durch folgende Aussage beleidigt worden zu sein.
Riegel sagte zu zwei seiner Bekannten, Herr Dr. Achenbach sei zu einer Entbindung nach Urweiler gerufen worden und habe, nachdem er dortselbst die Frau untersucht, erklärt: „Die Geburt mache ich nicht“ und habe mit diesen Worten das Haus verlassen.
In der Tat aber ist Dr. Achenbach an dem Tage überhaupt nicht in Urweiler gewesen, noch weniger hat er das Haus betreten, in dem er die Entbindung nach Angabe des Riegel vorgenommen haben sollte.
Diese Behauptung des Herrn Riegel beruht auf vollkommener Unwahrheit, was Herrn Riegel selbst zugesteht und unter dem Ausdruck des Bedauerns zurücknimmt. Als Sühne bezahlt Herr Riegel 10 Mark an den deutschen Schulverein, weitere 10 Mark an den Verschönerungs=Verein in St. Wendel. Vorgelesen, genehmigt und unterschrieben.

Im Endeffekt fragt man sich, was das soll. Kinderkram.
Eine blöde Bemerkung, völlig aus der Luft gegriffen,
einfach so dahergesagt,          vermutlich im Eifer des Gefechts.
Immerhin gibt Riegel das zu.
Und so gibt es drei Gewinner: Der gute Doktor selbst, der deutsche Schulverein und der Verschönerungsverein.

Und ohne diesen „Akt“ hätten wir vom Verschönerungsverein nie erfahren.

Die Quittung für den Verschönerungsverein ist nicht mehr vorhanden, dafür eine andere, bei der Laur am 27. Juli 1908 aus einem Sühnetermin 5 Mark der städtischen Armenkasse übergibt.

Bisweilen kommt es vor, daß Richtigstellungen oder Entschuldigungen in den örtlichen Blättern veröffentlicht werden müssen. Wird bisweilen verlangt und versprochen. Und dann meistens nicht gehalten.
Ich habe im Stadtarchiv St. Wendel etliche alte Zeitungen durchgeschaut und dabei überaus interessante Dinge gefunden, nur selten mal das Gesuchte.

Hier hat die Frau Karl Schwan Wort gehalten.

Der Hintergrund, wieder einmal beim Herrn Laur, diesmal am 5. Mai 1912:

Es erschien vor mir der Werkführer August Lauterbach von hier und erklärte, von der Frau Karl Schwan, Heizer von hier, durch die Aussage, Lauterbach sei am Sonntag den 28. April dieses Jahres Abends gegen 11 1/4 bis 11 1/2 Uhr in deren Wohnung gekommen, beleidigt worden (zu sein). Herr Lauterbach hat durch verschiedene Herren nachgewiesen, daß er in dieser Zeit ununterbrochen in dessen Gesellschaft gewesen ist.

Frau Schwan bedauert, daß sie den Herrn Lauterbach beschuldigt hat, und verpflichtet sich als Sühne 10 Mark in die Verschönerungs=Vereinskasse zu zahlen, außerdem verpflichtet sie sich, in den beiden hiesigen Zeitungen sowie in der Neunkirchner Zeitung ein Mal zu widerrufen. Herr Lauterbach ist bereit, sich damit zufrieden zu erklären. Kosten trägt Frau Karl Schwan. Vorgelesen, genehmigt und unterschrieben.

Leider ist nicht überliefert, was Karl Schwan seiner Ehefrau Karl Schwan erzählt hat, als sie ihm beibringen mußte, daß sie, damit   er 10 Mark und dazu noch die Zeitungsartikel bezahlen mußte. Ich vermute mal, er war nicht „amused“, vor allem, weil er sich und sie gefragt haben muß, was der Lauterbach - so er doch da war, weil ggf. die verschiedenen Herren sich geirrt oder gelogen haben - was der Lauterbach also an dem Abend in ihrer Wohnung gemacht hat oder haben soll.

Irgendetwas ist an dem Fall nicht koscher. Warum hat sich Lauterbach durch diese Aussage beleidigt gefühlt? Fragen über Fragen, und keine Antworten.

Widerruf
Die unwahren, schweren Beleidigungen, welche ich gegen Herrn Eisenbahn=Werkführer Lauterbach ausgebreitet, nehme ich hiermit als unwahr zurück.
Ehefrau Karl Schwan, Lokomotivheizer

^
Besagte Ehefrau von Peter Karl Schwan (1879-1875) hieß Helene Katharina Leyerer (1879-1936). Das Ehepaar hatte sieben Kinder (4 von 7).
Nach einer Lehre bei einem St. Wendeler Kaufmann diente er bei einer Marinedivision in Bremerhaven, mit der zahlreiche Seereisen durch die ganze Welt unternahm. Als nach dem Boxeraufstand 1901 der deutsche Kaiser militärische Truppen nach China entsandte, war Schwan auf dem Panzerschiff "Brandenburg" dabei. Nach seiner Militärzeit lebte er eher beschaulich - er heiratete 1904 und wurde Lokführer bei der Eisenbahn in St. Wendel.


Heinrich Laur war am längsten Schiedsmann in St. Wendel - von 1895-1917. Während die anderen eine, höchstens zwei Perioden (à 3 Jahre) im Dienst waren, hatte er sein Amt von 1895 bis mindestens 1917 inne.

Die einzelnen Vorgänge sind numerisch fortlaufend markiert. Das Buch beginnt mitten im Fall Nr. 19; die Fälle davor fehlen leider. Die letzte Nummer ist 398. Laurs Einträge beginnen mit Nr. 150. Allerdings ist ihm bei Nr. 157 etwas durcheinandergekommen, denn er macht plötzlich mit 180 weiter und überspringt die Nummern 158-179. Dann zählt er weiter bis 319 und kommt wieder durcheinander und macht mit 220 weiter bis 398. Damit werden tatsächlich 469 Fälle verhandelt, wovon im Buch 451 ½ Fälle drin sind.

Laurs Protokolle sind mit am schwersten zu lesen, weil er die Angewohnheit hatte, auf der einen Seite seine Sätze furchtbar zu verschachteln, auf der anderen Seite stellenweise Wörter oder gar halbe Sätze wegzulassen. Wie zum Beispiel im folgenden Fall:

No 310.
Verhandelt zu St. Wendel den 8. September 1907. Nachmittags 4 Uhr.

[Laur]
Es erschien vor mir der Kaufmann Eugen
Berl
von hier und erklärte, von dem
Herrn Franz Gerber von hier durch die Äußerung, die
Gerber in einer Versammlung des Gesangsvereins
gemacht hat, Berl müsse von der Bildfläche als
Dirigent verschwinden, die Vorgesetzten der Eisen=
bahn seien Berl feindlich gesinnt. [hier fehlt „beleidigt worden zu sein.“]
Gerber gibt nur zu, daß Berl als Dirigent verschwinden müsse und sieht nicht ein, daß er damit Berl beleidigt habe. Eine Sühne konnte nicht erreicht werden. Vorgelesen, genehmigt und unterschrieben.

Eugen Berl ist ein jüdischer Kaufmann hier in St. Wendel und hatte besagten Gesangverein kurz nach der Jahrhundertwende selbst gegründet. Orphea hieß er und hatte über fünfzig aktive Sänger beiderlei Geschlechts aus allen drei in St. Wendel damals vorkommenden Konfessionen, Katholiken, Protestanten und Juden. Über Berl werden wir heute am späten Nachmittag noch mehr hören.

Wie im Gesangverein sind auch im Schiedsmannsregister alle Konfessionen vertreten. Sie gehen wahllos aufeinander los, denn die kleinen Streitigkeiten kümmern sich - bei uns - selten um die Religionszugehörigkeit.

Hier haben wir die Quittung über 5 Mark, die Josef Paque aus St. Wendel nach einem Streit mit dem jüdischen Metzger Abraham Alexander in die Kasse der isrealischen Gemeinde in St. Wendel bezahlt.

Zum Schluß will ich noch ein paar Fälle vorlesen, in denen es um die sog. Verbalinjurien geht. Manche kennen wir heute natürlich auch noch, bei einer oder zwei mußte ich aber schon überlegen, als ich sie abschrieb, weniger ihrer Derbheit wegen als ihrer überaus phantasievollen Schreibweise.


No 322
Verhandelt zu St. Wendel den 13 August 1908. Nachmittags 5 1/2 Uhr.
[Laur]
Es erschien vor mir die Fräulein Frieda Reinheimer von hier und erklärte, von dem Herrn Abraham Alexander, Metzger von hier,

durch die Aussage "so frech wie du bist, ist die gemeinste Huhr nicht" sowie "du Freßbanz" und noch weiter beleidigende Ausdrücke beleidigt worden zu sein. Herr Alexander war vorschriftsmäßig geladen, erklärte vorher, daß er nicht erscheinen würde, und war ein Versuch zur Sühne unmöglich. Vorgelesen, genehmigt und unterschrieben.

Frieda Reinheimer, geboren 1884 in Wallhalben, war die zweitälteste Tochter des jüdischen Handelsmanns Abraham Reinheimer und seiner Frau Fanny Beildeck, die 1899 aus Wallhalben in der Pfalz nach St. Wendel, wo sie zunächst in der Neumarktstraße wohnten und dann 1901 das Haus „Hospitalstraße 13“ erwarben. Das Grab des Ehepaars läßt sich auf dem Urweiler Friedhof nicht finden. Ihre elf Kinder - darunter Frieda - starben im Ersten Weltkrieg in Frankreich, auf der Flucht in Holland oder - Frieda - im KZ Auschwitz.

Der jüdische Metzger Abraham August Alexander, geb. 1848, stammte aus Illingen und wohnte mit Ehefrau Karoline Adler seit 1878 in St. Wendel in der Brühlstraße, wo bis auf den ältesten Sohn zehn Kinder geboren wurden. Beide Eltern fanden auf dem jüdischen Friedhof bei Urweiler ihre letzte Ruhestätte.

Im darauffolgenden Juni gibt man sich mit der „Huhr“ nicht mehr zufrieden.

No 333
Verhandelt zu St. Wendel den 14 Juni 1909. Nachmittags 5 Uhr.
[Laur]
Es erschien vor mir die Frau Anton Stauder von hier und erklärte, von der Helene Weissgerber von hier am 8. Juni dieses Jahres durch die Aussage "Huhr, Trecksau, Betschwester" beleidigt worden zu sein. Diese Aussage hat ein Mann und meine beiden Kinder gehört.
Helene Weissgerber war vorschriftsmäßig geladen. ihr Vater erklärte jedoch vorher, daß sie nicht erscheinen könnte und war eine Sühneversuch unmöglich. Vorgelesen, genehmigt und unterschrieben.

„Trecksau“ mit „T“.
Hat was.

Frau Anton Stauder war Katharina geb. Dubreuil (1868-1946). Sie wohnten am Gudesberg in der Kelsweilerstraße 46.
Helene Weissgerber konnte ich nicht sicher identifizieren, da gab es mehrere Möglichkeiten.


Gar nicht herausbekommen konnte ich die Identität der nachstehenden beiden Damen, und angesichts dessen, was sie sich an den Kopf werfen, ist das auch vielleicht ganz gut so.

No 154.
Verhandelt zu St. Wendel den 5. Mai. 1895,  Nachmittags 3 Uhr.
[Laur]
Es erschien die Frau Gustav Meng von hier und erklärte, die Frau Katharina Stanger von hier habe sie durch folgendes beleidigt,

indem solche mich öfter „Huhr“ nannte und mir sagte, ich hätte mit Ihrem Mann zu thun, der mir auch Geld dafür gebe.
Die Frau Katharina Stanger war vorschriftsmäßig geladen, erschien aber vorher und gab die Erklärung ab, daß sie zu der Verhandlung nicht erscheinen würde, war also der Versuch der Sühne nicht möglich. Vorgelesen, genehmigt und unterschrieben.

Das Schiedsmannsregister von St. Wendel ist nicht wirklich eine genealogische Quelle, denn außer den Namen und Berufen erfahren wir nur, was damals geschehen ist.
Aber es zeigt uns, wie sich die Leute damals verhielten und auch wes Charakters sie waren.
Oder weist uns - wie im Fall von Dr. Achenbach - auf Leute hin, die einmal hier lebten.

Übrigens:
Mein Termin beim Schiedsmann endete ohne Kompromiß.
Um was es dabei ging, erfahren Sie frühestens dreißig Jahre nach meinem Ableben (was durchaus noch Zeit hat).

Eins ist allerdings sicher:
Nach Punkten blieb ich Sieger, aber gewonnen haben wir beide nicht.


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Das Buch finden Sie in der Ruprik "Veröffentlichungen"

Historische Forschungen · Roland Geiger · Alsfassener Straße 17 · 66606 St. Wendel · Telefon: 0 68 51 / 31 66
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