Schriftzug
19. Jahrhundert -> 1879 An unsere Nachkommen in 100 Jahren

An unsere Nachkommen in 100 Jahren

 

Im Jahre 1883 wurde in der Mitte des St. Wendeler Schloßplatzes, der damals allgemein nur "Marktplatz" genannt wurde, ein Brunnen aufgestellt. Das Volk, dem wohl ein etwas gefälliger gestalteter Brunnen lieber gewesen wäre, machte seinem Unmut durch Spott Luft. Immer wieder wurden Bürger gesehen, die sich neben den Brunnen stellten und die Hände darüber hielten, als ob sie sich - wie an einem Kanonenofen - daran wärmen wollten. Um 1915 wurde er durch den Kaiser-Wilhelm-Brunnen abgelöst, der allerdings auch nicht sehr lange dort stand (er befindet sich heute - seit Jahrzehnten dem Zahn der Zeit ausgesetzt und in ruinösem Zustand - im Bereich des ehemaligen R.A.D.-Lagers).

 

Aus Anlaß der Fertigstellung jenes ersten Brunnens erschien ein Artikel in der Nahe-Blies-Zeitung, Spalte "Lokales und Provinzielles", vom 20. Dezember 1883. Darin stellte der Verfasser Überlegungen an, wie wohl die Leute in hundert Jahren seine eigene Zeit (die von 1883) betrachten würden:

 

"Der neue Brunnen auf dem Marktplatze hierselbst ist im Laufe der vorigen Woche fertiggestellt worden. Der Sockel ist treppenförmig, auf demselben steht ein viereckiger gußeiserner Pfeiler, nach oben sich verjüngend, dessen Seiten verschlungen durchbrochen sind. An zwei Seiten befinden sich Ausflußröhren, darunter muschelförmige Becken. Am obern Ende ist ein Ständer zur Aufnahme einer noch fehlenden Laterne angebracht. Das Ganze macht einen recht netten Eindruck, wenn wir auch lieber statt der etwas zu allgewöhnlichen Säule eine mythologische Figur gesehen hätten. Wie vielen unserer Leser bekannt sein dürfte, ist der Brunnen aus freiwillig gezeichneten Beiträgen errichtet worden. Selbst ein ehemaliger Mitbürger unserer Stadt, Herr Hen in New York, hat zu diesem Zwecke 300 Mark dedicirt.

 

Die Taufe des Neulings hat noch nicht stattgefunden. Wie wir hören, werden bei dieser Gelegenheit auch verschiedene Zeitungen sowie die Lokalblätter der letzten Zeit in das Innere der Säule eingelegt werden. Welche Gedanke werden unsere Nachkommen wohl hegen, wenn nach 100 und mehr Jahre diese Reliquien ihrem Aufbewahrungsort entnommen werden.

 

Unglaublich schier wird der Leser es halten, wie weit wir Söhne des 19. Jahrhunderts hinter unseren Epigonen zurück waren. Lächelnd schüttelt er den Kopf ob des Aufsehens, welches wegen der neuen Wasserleitung gemacht wurde. Elektrisches Licht erleuchtet dann St. Wendels Straßen, die rusigen Oellampen und das stinkende Gas sind schon längst unbekannte Dinge. Statt der Eisenbahnen durchkreuzen lenkbare Luftschiffe den ätherischen Ocean. Durch die Straßen rollt die elektrische Bahn, und über den Telegraphen lacht man gerade so, wie wir jetzt die Arme und Signale des früheren Zeichen- und Lichttelegraphen verspotten. Wie unbeholfen in ihren Mitteln waren doch jene Erdbewohner, so lange an der Durchstechung des Isthmus von Panama zu arbeiten, denn zu seiner Zeit ist seit langem Afrika durch ein Tunnel mit Marseille in Verbindung gebracht.

 

Und gar erst die Politik? Die Türkei und alle Duodezstaaten sind verschwunden, nur durch Sprache und Stammverwandtschaft sind die Völker geschieden. "Krieg in Tonkin, Kampf im Sudan, Aufstand in Serbien, Schutz- und Trutzbündniß zwischen Frankreich und Rußland" liest er entrüstet weiter. Welche barbarische Zeiten für einen Mann jenes goldenen Zeitalters, wo internationale Schiedsgerichte alles regeln und stehende Heere und ehernes Waffenspiel unnöthig machen. "Creditbewilligung von mehreren Millionen zu einer Expedition nach einem chinenischen Vasallenstaat" - wirklich ganz unbegreiflich, zu seiner Zeit erhält jeder redliche Staatsbürger jährlich sowiel, wie er jetzt in Steuern zahlt, von der Kasse herausbezahlt.

 

Doch lach nur, du überkluger Gelehrter, und Dir wird es 100 Jahre später nicht besser gehen, als uns Kindern des vielgepriesenen Jahrhunderts der Intelligenz und des Verstandes."

 

Historische Forschungen · Roland Geiger · Alsfassener Straße 17 · 66606 St. Wendel · Telefon: 0 68 51 / 31 66
E-Mail:  alsfassen(at)web.de  (c)2009 hfrg.de

Diese Website durchsuchen

Suchen & Finden  
erweiterte Suche