Schriftzug
20. Jahrhundert -> 9. März 1945 Ein Brief aus Berlin

“Liebe Minne!
   Hans Hermann ist gestern Abend wohlbehalten und vollbepackt von Klein-Gartz zurückgekehrt. Sein Rucksack war voller Kartoffeln und z.T auch wesentlich besseren Sachen.
   Auch den richtigen Kommiß-Waffenrock hat er jetzt mit sich gebracht und für sich selbst endlich eine große warme Wolldecke. In die letztere ist allerdings durch Bügeleisen ein wirklich handtellergroßes Loch hineingebrannt und gerissen. Ich brachte es selbst zu Frau Pettenkofer mit einem in der Farbe passenden Flicken, den sie mir beiderseitig mit der Nähmaschine freundlichst aufnähen will.
   Es ist so bitter kalt, jede Nacht und jeden Morgen Frost; es war höchste Zeit, dass Hans Hermann auch für den Luftschutzkeller eine warme Decke hat. Er nahm dort schon immer meine braune, friert wohl an seinem verletzten Bein besonders stark.
   Die Kinder sind inzwischen auch gefährdet gewesen: Sie sollten nach Salzwedel zum Zahnarzt gebracht werden, Marianne kam vom Flugplatz dorthin. Inzwischen auf den Umsteigebahnhof Salzwedel, genau um die Zeit, als der Zug aus Pretzier einlaufen sollte, großer Bombenteppich.
   Als Marianne durch den Angriff verspätet hinkam, sprach man schon von Hunderten von Toten, da eine Bombe die Unterführung durchschlagen habe, die dort am Bahnhof als öffentlicher Luftschutzraum dient. Auch wurde behauptet, der Zug aus Pretzier wäre schon angekommen gewesen.
   Marianne wurde aber durch die Absperrung nicht auf den zerstörten Bahnhof gelassen. Darauf eilt sie zum Flugplatz zurück und erfährt telefonisch nach langem Bemühen von einem kleinen Lazarettarbeiter, der Zug aus Pretzier wäre rechtzeitig zurückgehalten worden. So blieben die Kinder unversehrt. Marianne aber, die schon vorher Fieber gehabt hatte, legte sich mit Gelbsucht hin.
   Vom Flugplatz ist inzwischen das Lehr-Regiment, in dessen Stab sie arbeitete, an die Front gegangen. Hans Hermann ist daraufhin gestern mit ihr auf dem Flugplatz gewesen und hat ihre Entlassung beantragt und erhalten. Marianne ist also wieder bei ihren Kindern.
   Ich habe dienstlich fast nichts zu tun, sodaß ich - der mittags stets drohenden Luftangriffe wegen - immer bedaure, dass ich die Wohnung ungeschützt lassen muß, wenn ich auf das RVG gehe. Es ist so kalt, dass ich die Fenster nicht für die Zeit offen lassen kann, die ich abwesend bin. Gestern habe ich mir sogar für H.H.'s Zimmer den elektrischen Ofen wieder aus dem Keller holen müssen.
   Zeit für meine Hausarbeit habe ich wirklich. Ich stopfe Strümpfe und Unterhosen, habe mir sogar auf das Loch, das ich durch die Stoffseite eines meiner braunen Hausschuhe durchgetreten hatte, - sehr sauber gelungen,- doppelt braunen Flicken aufgesetzt. Darauf bin ich aber auch sehr stolz.
   Für die Vorwoche habe ich immer noch keine Kartoffeln bekommen und heute ist schon wieder Freitag. Bei Schlenkirch war der Andrang gestern so stark, dass ich weder Wurstsuppe noch Schweinskopf erhielt. Fleischsalat wird leider nicht mehr gemacht. Was aus uns werden sollte, wenn wir nicht die Hamsterkartoffeln hätten, weiß ich nicht. Seit Deiner Abreise habe ich Kartoffeln von Nessler überhaupt noch nicht erhalten, sondern durch vieles Laufen nur für eine Woche Trockenkartoffeln. Versucht haben wir diese noch nicht.
   Hans Hermann hat entschiedenes Kochtalent: Sehr gern macht er Omelette an confitüre ohne Eier, mit Milei [Pulver als Eiersatz]. Schmeckt mit angeblich wenig Fett ausgezeichnet. Frau Pettenkofer hat es - staunend - ihm schon mit Erfolg nachgemacht.
   Immer wieder bewundern wir die Reichhaltigkeit der vielen Vorräte, die Du uns zurückgelassen hast! Herzlichen Dank! In aller Liebe
   Dein Voter“

aus:
Roland Geiger, „Eine preußische Familie. Aus den Lebenserinnerungen von Hermann und Margarete Sommer“, St. Wendel, 2022.


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