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Menschen -> Max Bodenheimer und der Zionismus

Am Rand der Erkenntnis

 

Vorwort

 

Vor ein paar Jahren durchsuchte ich das Internet nach dem Stichwort "St. Wendel", wie ich es gewohnheitsmäßig alle paar Monate tue. Neben unzähligen Hinweisen auf Radsportveran-staltungen und das UTZ stieß ich auf sehr interessante familienkundliche Beiträge und nach vielem Blättern auch auf den folgenden Eintrag.

 

"1890 - nach dem er seine Rechtsausbildung am Gericht von St. Wendel (Deutschland) beendet hatte, ließ er sich in Köln nieder und praktizierte dort Recht bis 1933."

 

Der Eintrag bezog sich auf einen 25-jährigen jüdischen Rechtsanwalt namens Max I. Bodenheimer. Der Name war mir völlig fremd.

 

Ich durchforschte unsere lokalgeschichtliche Literatur, fand aber keinen Hinweis auf diesen Mann; auch Max Müller, der ihn gekannt haben könnte, schweigt sich über ihn aus. Niemand, den ich fragte, kannte den Namen. Also schrieb ich eine E-mail an die Verfasserin des Textes und kam so in Kontakt mit Eva Ferrero, Archivarin der Central Zionist Archives in Jerusalem. Ich bat um nähere Informationen über Max Bodenheimer und natürlich auch über seine Beziehung zu St. Wendel.

 

 

Max Bodenheimer - ein Leben für eine Idee

 

Max Isidor Bodenheimer wird am 21. März 1865 in Stuttgart als viertes von acht Kindern des jüdischen Großhändlers Jakob Bodenheimer und seiner Ehefrau Henriette geborene Heiden-heimer geboren. Die Geschäfte seines Vaters laufen so erfolgreich, daß er sich schon in jungen Jahren zur Ruhe setzen kann. Dieser Wohlstand ermöglicht es seinem Sohn, an den Universitäten von Tübingen, Straßburg und Berlin Recht zu studieren. In Berlin legt er mit Erfolg seine juristische Prüfung ab. Um die Zeit bis zum Freiwerden einer Oberlandesgerichtsstelle zu überbrücken, besucht er die Universität Freiburg und verläßt sie als Doktor der Rechte.

  

Bereits früh wird er sich des in der Welt herrschenden Antisemitismus bewußt, und er versucht, seine Ursachen zu ergründen. Schon im Jahre 1889 kommt er zu dem Schluß, daß alle Juden eine Nation bilden, und daß es nur einen zentralen Ort, nur einen Ort der Zuflucht auf der Welt für sie gibt: Eretz-Israel, das ist hebräisch und steht für ?das Land Israel?.

 

Welche flächenmäßigen Ausmaße dieses Land haben soll, ist nicht definiert. Den Ausdruck ?Eretz Israel? statt dem Wort ?Palästina? anzuwenden, bedeutet vor allem, von dem mythischen, vor 2000 Jahren verlassenen Land zu sprechen, das es gilt wiederzugewinnen, um dort einen neuen Staat aufzubauen. Die daraus enstehende Bewegung nennt man "Zionismus".

 

Im Frühjahr 1889 wird er zu einem Landgericht in die Kleinstadt St. Wendel im östlichen Rheinland versetzt, wo er erste praktische Erfahrungen sammelt. Im Februar 1890 läßt er sich in Köln nieder, wo er bis ins Jahr 1933 eine Rechtsanwaltskanzlei betreibt.

 

Ab 1891 veröffentlicht er in der einmal pro Woche in Hamburg erscheinenden jüdischen Zeitung "Die Menorah" einen Artikel, der den Zionismus zum Thema hat. Er trägt den Titel "Sind die russischen Juden eine Nation?".

 

 

Rosa Dalberg und Max Bodenheimer

 

 

Ein Heft mit dem Titel "Wohin mit den russischen Juden? / Syrien ein Zufluchtsort der russischen Juden" folgt im Juli. Am 4. September 1891 läßt er in der Menorah einen Aufruf an alle jüdischen Gesellschaften veröffentlichen, die sich dem Zionsgedanken verschrieben haben:

 

"Zionisten aller Länder,

vereinigt euch".

 

Bodenheimer weiß, daß dieses Ziel nur zu erreichen ist, wenn sich alle Zionisten organisieren; auch ist ihm klar, daß es beträchtlicher finanzieller Mittel bedarf, um das große Ziel umzusetzen. Gemeinsam mit dem Holzhändler David Wolffsohn, der später Theodor Herzl's Nachfolger als Vorsitzender der World Zionist Organization wird, gründet Bodenheimer 1892 in Köln den "Nationaljüdischen Club Zion", zwei Jahre später die National-Jüdische Vereinigung. Im Mai 1896 nimmt er Briefkontakt mit Theodor Herzl auf, der Leitfigur der zionistischen Bewegung, die Herzl unabhängig von Bodenheimer ins Leben gerufen hat.

 

 

Bodenheimer heiratet am 22. Juli 1896 Rosa Dalberg (geb. 6.12.1876); das obige Photo zeigt sie in ihrem Hochzeitsjahr. Aus der Ehe gehen drei Kinder hervor:

 

Sein Sohn Friedrich Simon (1897-1959) wird Professor für Zoologie an der Hebräischen Universität von Jerusalem.

 

Seine älteste Tochter Henriette Hannah (1898-1992) gibt 1957 die Autobiographie ihres Vaters mit dem Titel "So wurde Israel" heraus und widmet ihr Leben dem Andenken ihres Vaters, indem sie einige Bücher über Max Bodenheimers Rolle in der zionistischen Bewegung verfaßt und mit ihrem Testament die ?Society for the Commemoration of Max I. Bodenheimer and Hannah Henriette Bodenheimer? (= Gesellschaft zur ehrenvollen Erinnerung an Max I. Bodenheimer und Hannah Henriette Bodenheimer) gründet.

 

Die jüngere Tochter Ruth (1900-1941) folgt den Fußstapfen ihres Vaters und wird Rechtsanwältin.

 

Auf einer Konferenz deutscher Zionisten in Bingen am Rhein im Juli 1897 wird die ?National-Jüdische Vereinigung? in Köln zur ?National-Jüdischen Vereinigung fuer Deutschland? umbenannt. Ab Oktober 1897 wird diese dann zur ?Zionistischen Vereinigung für Deutschland? (Z.V.f.D), deren Vorsitz Bodenheimer bis 1910 führt. Diese Konferenz ist eine Vorbereitung der deutschen Delegation zum Ersten Zionistischen Kongress, der am 30. und 31. Oktober 1897 in Basel stattfindet. Max Bodenheimer wird dort in das "Grosse Aktionskomitee" berufen, dem er bis 1921 angehört.

 

Dieser Kongress, der in unregelmäßigen Abständen durchgeführt wird, ist das oberste beschließende Organ der Zionistischen Organisation. In der Zeit zwischen den Kongressen überwacht das sog. "Engere Aktionskomitee?, das aus fünf bis sieben Mietgliedern besteht, die Gesamttätigkeit der Z.O. Es bildet somit die Exekutive des Kongresses. Das ?Grosse Aktionskomitee? mit einer wechselnden Mitgliederzahl von bis zu 23 Mitgliedern hat nur die Funktion eines Beirates des ?Engeren Aktionskomitees?.

 

Im Oktober bis November 1898 ist Bodenheimer Mitglied einer Delegation, die Theodor Herzl nach Konstantinopel und Jerusalem begleitet, wo sie den deutschen Kaiser trifft, um ihn um Unterstützung für die Ziele der Zionistischen Bewegung zu bitten.

 

In den folgenden Jahren geht Bodenheimer voll in der Sache auf:

 

è März 1899: Gründung des 'Jewish Colonial Trust' (=Jüdische Kolonialbank) mit Sitz in London (Bodenheimer gehört bis zu seinem Tod dem Vorstand an)

 

è 1901: Ausarbeitung des Organisationsstatuts der Zionistischen Organisation, das beim Fünften Zionistischen Kongress im Dezember ratifiziert wird

 

Als das Büro der Z.V.f.D. von Köln nach Berlin verlegt wird, beginnt der Einfluß Bodenheimers im deutschen Zionismus zu schwinden.

 

è Zwischen 1907 - 1921 Vorstandsmitglied des ?Jewish National Fund? (=Jüdischer Nationalfonds). Sein Ziel ist es, auf privatrechtlicher Basis in Palästina Grund und Boden zu kaufen und das erworbene Land mit Juden zu besiedeln. Das in Besitz genommene Land wird unveräußerliches Eigentum des jüdischen Volkes und gehört somit nicht dem Einzelnen; es wird allerdings an Privatpersonen in Erbpacht gegeben. Die Finanzierung erfolgt durch freiwillige Spenden.

 

è zweite Palästina-Reise im März und April 1912

 

è zwischen 1912 und 1914 stellt er sich gegen eine "radikale" Richtung innerhalb des deutschen Zionismus, die durch Kurt Blumenfeld repräsentiert wird.

 

è 1914 initiiert Bodenheimer die Gründung des "Komitee zur Befreiung der russischen Juden", das später in "Komitee für den Osten" umgenannt wird. Sein Ziel ist es, die jüdische Bevölkerung in den von den Deutschen und Österreichern besetzten Gebieten davon zu überzeugen, mit den deutschen Truppen zusammenzuarbeiten.

 

è 1920: Bodenheimer führt den Vorsitz des Organisationskomitees der ersten zionistischen Konferenz nach dem 1. Weltkrieg, die in London stattfindet. Im April 1921 stimmt er mit der Mehrheit für die Entscheidung des Jewish National Fund (J.N.F.), im Jezreel-Tal in Israel Land aufzukaufen. Im Dezember 1921 verteidigt er diese Haltung während einer Debatte auf dem Zwölften Zionistenkongress; es ist seine letzte signifikante Äußerung während einer Kontroverse über den Zionismus. Im gleichen Monat wird er wie viele andere Veteranen der Herzl-Periode im Vorstand des J.N.F. nicht wiedergewählt. Seine offizielle Beziehung zum J.N.F. endet damit.

 

è 1926: 3. Palästina-Reise (mit seiner Frau Rosa und Tochter Ruth)

 

è 1928: Organisation eines speziell jüdischen Teils innerhalb der Internationalen Presseausstellung PRESSA in Köln.

 

Da er sich mit der Politik von Chaim Weizmann (der inzwischen Vorsitzender der Zionistischen Organisation geworden war) nicht einverstanden erklären kann, tritt er der Revisionistischen Partei unter Zeev Jabotinsky bei und nimmt 1931 als ihr Vertreter zum letzten Mal an einem Zionisten-Kongress teil. 1934 verläßt er die Partei wieder.

 

Im April 1933 zieht er mit seiner Familie von Köln über Antwerpen nach Amsterdam um, von dort aus im März 1935 nach Jerusalem, wo er mit dem Verfassen seiner Memoiren beginnt.

 

Max Bodenheimer stirbt am 19. Juli 1940 im Alter von 75 Jahren in Jerusalem. Er ruht zusammen mit seiner Frau Rosa (+ 24. März 1938) und seiner Tochter Ruth, die 1941 an einer akuten Blinddarmentzündung stirbt, auf dem Ölberg in Jerusalem.


In St. Wendel

 

Hannah Henriette Bodenheimer publizierte im Jahre 1957 die Autobiographie ihres Vaters unter dem Titel "So wurde Israel". Darin beschreibt er seine Kindheit in Stuttgart, seine Ausbildung an den verschiedenen Universitäten, sein späteres Leben als Rechtsanwalt und Mitbegründer des zionistischen Gedankens. Auf den Seiten 41 bis 43 schreibt er über seinen kurzen, ein knappes Jahr dauernden Aufenthalt in St. Wendel.

 

Bodenheimer hat gerade seine Abschlußprüfung an der Universität in Freiburg mit Erfolg abgelegt.

 

"... und so erhielt ich den 'Doktorhut'. Zu Hause empfing man den neugebackenen Doktor mit großer Freude. Ich meldete mich dann nach der Rheinprovinz und erhielt ohne weiteres meine Ernennung beim Amtsgericht in St. Wendel. Diese kleine Kreisstadt im Südwesten des Rheinlandes war mir bis dahin gänzlich unbekannt.

 

Das Landgericht befand sich in Saarbrücken, wo ich mich dem Präsidenten vorstellte. Die Stadt machte auf mich einen nüchternen Eindruck. Besser gefiel mir St. Johann. Damals waren es noch Zwillingsstädte an beiden Ufern der Saar. Man brauchte von Saarbrücken nur über die Brücke zu gehen, um in eine aufblühende Handelsstadt zu kommen. Die Berg- und Werkarbeiter strömten am Sonntag dorthin, um ihre Einkäufe zu besorgen, was einen fast großstädtischen Verkehr hervorrief.

 

In St. Wendel kehrte ich in einem bescheidenen Gasthof am Marktplatz ein. Am nächsten Tag war Markttag. Blöken von Schafen, Gebrüll von Rindvieh, Schna ttern von Gänsen, Gackern von Hühnern, Grunzen von Schweinen und lärmendes Geschrei von Händlern und Marktweibern weckten mich aus dem Schlaf. Ein so ländliches Bild hätte ich nicht erwartet. Ich ging über den Platz und die den Hügel anstrebende Hauptstraße nach einem nahen Wäldchen. Dabei kam ich auch am Kasino vorüber, der Stätte mancher öden, der Bierbankpolitik gewidmeten Stunden.

 

Die Nachricht von der Ankunft des im Kreisblatt angekündigten Referendars hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Von allen Seiten wurde ich neugierig bestaunt. Ich ahnte nicht, daß diese Stadt für mein Leben eine entscheidende Bedeutung erlangen würde. Die fremde, mir ungewohnte Umgebung, die Kleinheit aller Verhältnisse, der Zwang, nur mit Nichtjuden zu verkehren, schärften meine Beobachtung und förderten meine Erkenntnis der wahren Ursache des Judenhasses, die allmählich an die Oberfläche meines Bewußtseins trat.

 

Der stattliche Bürgermeister Müller, der gern seine Anekdoten aus der Zeit des Deutsch-Französischen Krieges zum besten gab, der kerndeutsche Oberförster, der verbissene Postmeister, dem man eine unbezwingliche Neugier und dauernde Verletzung des Dienstgeheimnisses nachsagte, ja sogar die Oberlehrer des Gymnasiums betrachteten mich als eine Art exotisches Tier. Am meisten verwundert waren die aufgeblasenen, mehr oder weniger hübschen Honoratiorentöchter. Sie hatten sich von dem jüdischen Referendar eine Vorstellung nach den Abbildungen der Witzblätter gemacht. Sie fanden, daß ich mich sogar vorteilhaft von dem anderen Referendar unterschied, der unzweifelhaft arischer Abstammung war. Ich durfte es dann als eine besondere Ehre schätzen, daß mich der Krocketclub der Damen, der in der Auswahl der Herren sehr exklusiv war, durch den Amtsrichter Heidermanns zu den Spielnachmittagen im Garten des Kasinos einlud. Im Hause des Amtsrichters und seiner jungen Frau wurde ich mit großer Liebenswürdigkeit empfangen. Auch in dienstlicher Hinsicht war er mir gewogen und förderte meine Versetzung nach Köln.

 

Die Beamtenschaft des Ortes blieb mir fremd, obwohl ich an ihrem Frühschoppen teilnahm und in ihrem Kreise sehr langweilige Bierabende im Kasino erlebte. Ich bemerkte keine Unfreundlichkeit mir gegenüber, bis mir ein zu St. Wendel zu Besuch weilender Kunstmaler die Augen öffnete. Als ich nämlich von meinem Sommerurlaub zurückkam, riet er mir ganz vertraulich, das Kasino zu meiden. Auf mein Drängen erzählte er mir, man habe in meiner Abwesenheit judenfeindliche Bemerkungen gemacht. Ich hielt mich darauf dem Rat meines Bekannten zufolge vom Besuch des Kasinos zurück.

 

Ich konnte aber die Teilnahme an der Geburtstagsfeier des Kaisers nicht vermeiden, da dies eine dienstliche Verpflichtung war. Bei den Exzessen im Kasino hatte sich der Regimentsadjutant, ein aufgeblasener Hohlkopf und Mädchenjäger, der von Anfang an mir gegenüber gehässig war, hervorgetan. Der Teufel des Alkohols veranlaßte ihn nun gegen Ende der Feier zu einem höchst beleidigenden judenfeindlichen Ausfall gegen mich. Es sei bald Zeit, sagte er, daß den Juden nicht mehr erlaubt werde, des Königs Rock zu tragen. Darauf forderte ich ihn auf Pistolen. Er war aber feig genug, sich mit seiner Trunkenheit zu entschuldigen, und behauptete, sich des ganzen Vorgangs nicht mehr zu entsinnen. Ich ließ dies gelten, weil die Tischgenossen ein Duell wegen der Trunkenheit des Adjutanten nicht für gerechtfertigt hielten.

 

Vielleicht spielte aber auch eine Erinnerung aus meiner Berliner Zeit mit. Damals war der jüdische Student Eichler im Duell von einem antisemitischen Studenten erschossen worden. Ich sah nun wie im Traum den feierlichen Aufzug seiner Beerdigung vor mir, an dem die gesamten Studentenverbindungen der Universität im Wichs und mit ihren Bannern teilnahmen, und dann stand plötzlich das Bild der verzweifelten Eltern vor meinen Augen, die ihren Sohn der Abstammung wegen hatten hergeben müssen. Ich zerriß den sentimentalen Abschiedsbrief, den ich an meine Eltern geschrieben hatte.

 

Ein Hauptgrund für die Beherrschung meines Zornes war aber, daß mich um diese Zeit ein neuer Gedanke mit großer Macht ergriffen hatte. Ich glaubte, der Welt noch etwas sagen zu können, und hoffte, dem Judentum einen besseren Dienst zu leisten, wenn ich mich am Leben erhielte, als mich von einem gewissenlosen Windbeutel ohne dringende Veranlassung niederknallen zu lassen."

 

 

Einige Notizen zu den Personen, die Bodenheimer nennt:

 

Carl August Theodor Müller war Bürgermeister in St. Wendel von 1869 bis 1893. Er war geboren am 1. Juni 1822. Von 01.04.1842 bis 31.03.1845 war er Soldat und diente als Bombardier bei der 8. Artillerie-Brigade. Seine Absicht war es, die Offizierslaufbahn einzuschlagen. Nachdem er zum Fähnrich vorgeschlagen war, zog er sich allerdings eine Dienstverletzung zu und mußte aus dem Militärdienst ausscheiden. Von Dezember 1945 bis 30. August 1846 war er Supernumerar bei der Königlichen Regierung in Arnsberg, ab 01.08.1847 Kommissar bei der Polizeiverwaltung Dortmund, ab 01.04.1856 Kontrollvorsteher bei der Königlichen Eisenbahndirektion in Aachen und ab 28.02.1859 Fiskalatsekretär bei der Provinzial-Steuerdirektion in Köln. Am 4. März 1869 wurde er kommissarischer Bürgermeister in St. Wendel. Am 06.08.1869 wurde er von der Stadtverordnetenversammlung gewählt und am 18. September gleichen Jahres durch Verfügung der Regierung zu Trier definitiv bestätigt. Am 31.10.1869 löste er seinen Vorgänger Carl Wilhelm Rechlin in seinem Amt ab. Wie Rechlin und dessen Vorgänger von der coburgischen Zeit an führte er die Stadt- und die Landbürgermeisterei St. Wendel in Personalunion. Müller war verheiratet mit Mathilde geborene Dresel. Sein einziges Kind starb bereits im Kindesalter. Aus besonderer Liebhaberei widmete er sich der Rosenzucht, weshalb er allgemein der "Rosenmüller" genannt wurde. Er war Träger des Preußischen Kronenordens III. Klasse. Am 31. Juli 1893 wurde er aufgrund einer längeren Krankheit in den Ruhestand versetzt. Er starb am 24. Oktober 1898 in Wiesbaden. Sein Nachfolger im Amt wurde Karl Alfred Friedrich (Daten aus: Hans Klaus Schmitt, "Die Schultheißen und Bürgermeister der Stadt St Wendel", St. Wendel nach 1963).

 

Dem Amtsrichter Johann Joseph Heidermanns ist im Anschluß ein eigener Artikel gewidmet.

 

Bei dem besagten Regiments-Adjutanten handelt es sich vermutlich um den Premier-Lieutenant und Bezirks-Adjutanten Friedrich Wilhelm Richard Nebelung, verheiratet mit Hedwig Emilie Mügel. Ich bin auf den Namen nur durch puren Zufall gestohlen, als ich im Standesamtsregister den Eintrag der Geburt seiner Tochter Hedwig Therese Alice Nebelung am 03.08.1894, 21.30 Uhr, entdeckte. Somit ist es nicht sicher, ob es sich bei Nebelung um besagten Herrn handelt.

 

Die anderen Personen sind mir leider nur namentlich bekannt. Weitere Daten liegen zur Zeit nicht vor: Oberförster in St. Wendel war damals Theodor Heller, Postmeister Bernhard Melmer, der zweite Assessor war vermutlich der Justizanwärter Peter Joseph Jansen. Wie an den Namen zu ersehen, stammt keiner der drei Männer aus St. Wendel. In Pastor Gerbers Familienbüchern, die bis 1880 reichen, ist keiner von ihnen genannt.

 

Interessant ist der Hinweis auf den Krocketclub der Damen, die diesen aus England kommenden Sport im Garten des Kasinos in der heutigen Ostertalstraße (am sog. "Rondell") ausübten. Bislang gab es keinen Hinweis auf einen solchen Club.

 

Über Kaisers Geburtstag lesen wir in der Nahe-Blies-Zeitung vom 30. Januar 1890, die ich im Stadtarchiv St. Wendel eingesehen habe: "Unseren Berichten über die Begehung des Geburtstages Sr. Majestät unseres allverehrten Kaisers, haben wir noch nachzutragen, daß mittags 1 Uhr im Saale des Casinos ein Festessen stattfand, an welchem etwa 50 Herren theilnahmen. In kurzer bündiger Weise brachte hier Herr Major Meller den Kaisertoast aus.."

 

Der Marktplatz schließlich war vermutlich der Schloßplatz, und das Hotel Knoll war damals das einzige Hotel dort.

 

 

Der Zionistische Gedanke

 

Im nächsten Kapitel seiner Biographie erläutert Bodenheimer seine Ideen und Überlegungen, die ihn dazu veranlassen, sein Leben dem Ziel zu widmen, eine neue Heimat für das jüdische Volk zu suchen und zu finden.

 

"Als die Wurzel seines Unglücks erkannte ich seine Zerstreuung unter den Völkern. Sein Schicksal war kein anderes als das jeder Minderheit, die, vom Boden in ihren Wohnländern ausgeschlossen, aus ihrer Heimat verdrängt worden sind. Überall wird ein solches Volk als Fremdkörper empfunden. Nur so ist es verständlich, daß es in Ländern mit Wohlwollen aufgenommen wurde, wo eine fühlbare Lücke des eigenen Volkslebens ausgefüllt werden mußte. Im Mittelalter ergab sich dies durch das kanonische Zinsverbot. Da der Geld- und Handelsverkehr aber nur auf der Grundlage einer Verzinsung des Kapitals möglich war, waren die Juden, denen es erlaubt war, Zinsen zu nehmen, als Geldverleiher in den Städten willkommen. Es stand freilich in der Hand des Kaisers und der Fürsten, durch Schulderlasse oder durch noch drastischere Mittel den von den Juden erworbenen Reichtum wieder an sich zu ziehen. Die Zeit der Kreuzzüge mit der Plünderung und der Ermordung der Juden in Süd- und Westdeutschland sind ein Zeugnis davon."

 

"Dazu kommt die religiöse und nationale Eigenart der Juden. Sie blieben den anderen Völkern fremd, weil sie teils durch Zwang, teils durch Sitte von ihnen abgeschlossen waren. Das Unbekannte wird aber gefürchtet, und so mußten sie nach einem Urtrieb des Menschengeistes ein Gegenstand des Hasses und der Verfolgung werden. Die Form, in die sich diese Feindschaft kleidete, wechselte nach Ort und Zeit. Die Tatsache aber blieb stets dieselbe."

 

"Aber wo war das Land, das den Juden als Zuflucht dienen konnte? Auch darüber gelangte ich in diesen denkwürdigen Stunden im Frühsommer 1889 zu einer unmittelbaren Klarheit. Nur Palästina konnte es sein - die alte Heimat des jüdischen Stammes. Religion und Geschichte wiesen darauf hin. Die Erweckung des Nationalgefühls schien mit diesem Lande verknüpft."

 

Als er sich dessen klar wurde, suchte Bodenheimer, der zu dieser Zeit immer noch in St. Wendel wohnte, Bundesgenossen, die seine Überlegungen aufnahmen und teilten. Dies war nicht so einfach, wie er sich das wohl im ersten Überschwang vorgestellt hatte. Ein Freund aus Universitätstagen namens Bredig tat die Idee in einem Briefwechsel als "eine kindliche Phantasie" ab. Erst fast fünfzig Jahre später erhielt Bodenheimer von Bredig eine Entschuldigung für diese Worte. Dann war Bredig zu einem großen Anhänger und Förderer der Zionistischen Bewegung geworden.

 

Bodenheimer versuchte es dann in Saarbrücken. "Meine erste Werbetätigkeit begann ich naiverweise, als ich den Neujahrstag (1889/90) in Saarbrücken verbrachte und in der dortigen jüdischen Gaststube eine Anzahl junger Kaufleute traf, mit denen ich ins Gespräch geriet. Ich hatte aber diese Leute überschätzt. Ein großer Teil dieser Geschäftsreisenden und kaufmännischen Angestellten war idealen Dingen durchaus unzugänglich. Es fehlten ihnen die primitivste Kenntnis der jüdischen Geschichte, und das Interesse für das Judentum, soweit es überhaupt vorhanden war, war äußerlicher Natur. Der Antisemitismus war diesen Leuten eine vorübergehende Erscheinung, der sie nicht weiter belästigte, da er sie weder in ihrem Erwerb noch in ihren Vergnügungen störte. Ich stieß auf absolute Verständnislosigkeit, ja sogar Feindseligkeit, weil sie für ihr Behagen und ihre Ruhe fürchteten. Sie hielten mich anscheinend für geistesgestört oder für einen Sonderling. Mein Versuch erwies sich als ein Fehlschlag."

 

Ein anschließender Besuch der Pariser Weltausstellung vertieft noch seine Frustration, als er erkennt, daß alle Völker der Erde, auch die kleinsten, auf der Weltschau vertreten waren. "Nur für das jüdische Volk war kein Raum".

 

Im Februar 1890 verließ Bodenheimer St. Wendel und zog nach Köln um, wo er bis 1933 wohnte und arbeitete. Hier fand er Menschen, die seinen Ideen gegenüber aufgeschlossen waren und ihm halfen, sie in die Tat umzusetzen.

 

Sein Eindruck von unserer Heimatstadt mag gut oder schlecht gewesen sein - es war ein bleibender Eindruck und ein wichtiger dazu, denn er bestimmte sein ganzes weiteres Leben:

 

"Ob es das Leben in der Kleinstadt war, die ungewohnte Umgebung, der Zwang zur Verinnerlichung, wer kann es sagen? Vielleicht stand ich schon lange am Rand der Erkenntnis, und ein leichter Windstoß genügte, das stille Feuer anzufachen."

 

 

 

 

 

Quellen:

 

Bodenheimer, Henriette Hannah, ed.

Bodenheimer, Max Isidor

"So wurde Israel. Aus der Geschichte der Zionistischen Bewegung"

Frankfurt/Main, 1958 (2. Auflage: Köln 1984)

 

Nahe-Blies-Zeitung, Nr. 13, 30. Januar 1890, Lokales und Provinzielles

 

"Die Schultheißen und Bürgermeister der Stadt St. Wendel", von Haus-Klaus Schmitt, St. Wendel, 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts

 

Internet: http://maxbodenheimer.org/Biography.aspx

 

Mein Dank für Informationen zu diesem Artikel gilt

 

=> Elmar Landwehr aus St. Wendel für die Möglichkeit, in den Aktenbestand "Casino in St. Wendel" Einblick nehmen zu können

 

=> Eva Ferrero, Archivarin der Central Zionist Archives, Jerusalem, Israel, mit der ich in regem Schriftverkehr über Max Bodenheimer stand

 

=> Botschafter a.D. Dr. Niels Hansen in Bonn, der lange Jahre deutscher Botschafter in Israel war und in dieser Zeit auch Kontakt mit Bodenheimers Tochter Henrietta hatte.

 

=> Werner Martin aus St. Wendel, der mir sein Exemplar "So wurde Israel" für meine Recherchen zur Verfügung stellte

 

 

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