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St. Wendel ? eine bedeutende Stadt.

 

- Gedanken eines Stadtführers -

 

 

Ein stolzer Titel.

 

Und jeder, der hier lebt und sich hier heimisch fühlt und sich mit St. Wendel mehr oder minder identifiziert, trägt ihn mit Stolz. Wenn ihn jemand von außerhalb fragt, warum St. Wendel eine bedeutende Stadt sei, dann antwortet er frei von der Leber weg und nennt die Ereignisse, "Events" genannt und "Iwäntz" gesprochen, die Bürgermeister Bouillon in den letzten 25 Jahren auf die Beine gestellt hat. Stellt man dann die Frage, ob St. Wendel immer solch eine bedeutende Stadt war, kommt die Antwort "ja" wie aus der Pistole geschossen. Und fragt man dann nach Beispielen, dann folgt ? betroffenes Schweigen. Entweder weil der betreffende Landsmann die Geschichte seiner Heimatstadt nicht so gut kennt, wie er meint, oder weil er sie kennt und jetzt plötzlich erkennt, daß hier zwar immer viel los war, aber etwas richtig Bedeutendes ? äh, ja, hm, ? das gabs eigentlich schon lange nicht mehr.

 

Mir ist das zum ersten Mal aufgefallen, als mich mein Freund Johannes Naumann aus Thalexweiler vor ein paar Monaten fragte, ob wir hier in St. Wendel Gebäude hätten, die aus der Zeit des Barocks stammten und entsprechend gestaltet wären. Johannes arbeitete gerade an seinem Buch "das barocke Eppelborn", das im November ebendort erschienen ist. Tja, mir fiel das Rathaus 1 ein, das 1742 von Franz Ernst von Hame, kurtrierischer Amtmann und Stadtschultheiß, als Privathaus gebaut wurde. Er vermietete damals das Erdgeschoß an den kurtrierischen Amtmann und schob damit die Miete direkt in die eigene Tasche; doch das nur nebenbei. Aber außer dem Rathaus und dem Pfarrhaus fiel mir eigentlich nichts ein. Mal schauen. Im 19. Jahrhundert kam die Eisenbahn nach St. Wendel und öffnete der Stadt ein Tor zur Welt. Viele Menschen, vor allem auch jüdische Kaufleute, siedelten sich jetzt in St. Wendel an, weil die Anbindung bessere Handelsmöglichkeiten bot. Wurde die Stadt dadurch bedeutend? Ein bißchen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten wir die Coburger als Fremdherren in  der Stadt und Umgebung. Aber bedeutend war das für St. Wendel definitiv nicht, denn wie wir spätestens seit Dr. Josef Dreesens Buch "Das Fürstentum Lichtenberg ? ein Provisorium" wissen, wollte Herzog Ernst nur eins, nämlich die "coburgische Kolonie" so schnell wie möglich los werden. 18 Jahre benötigte er dafür, dann waren wir ihn und er uns wieder los. Daß er seine Frau nach St. Wendel ins Exil schickte, machte St. Wendel nicht bedeutend. Eher war sie es, die bedeutend für St. Wendel war, nicht umgekehrt. Noch heute ist St. Wendel in dieser Richtung so unbedeutend, daß es in der europäischen Geschichte diesbezüglich nicht erwähnt wird.

 

 

 

Im 18. Jahrhundert war außer dem Rathausbau auch nicht viel los. Die Stadt pflegte noch die Narben der Zerstörung ausgangs des 17. Jahrhunderts und benötigte dazu einer starken Hand, die sie in Form des schon genannten Großgrundbesitzers Franz Ernst von Hame spürte. Er herrschte hier wie ein Fürst; sein Wort war Gesetz. Sein Vorgesetzter war der Kurfürst in Trier, vier Tage weg ? zu Pferd (zwei Tage hin ? zwei Tage zurück). Mit ihm legte man sich tunlichst nicht an. Als 1775 der Steuereinnehmer Johann Coenen, Pächter der Felsenmühle (Eigentümer war der Kurtrier), des Betrugs in 15 Fällen bezichtigt wurde, stellte von Hame sich hinter ihn und gab ihm Rückendeckung. Und als man dann seitens der Bürgerschaft auf ihn losging, da wußte er den Kurfürst in seinem Rücken, der ihm denselben offenhielt. Ja, Korruption ist schon eine feine Sache, wenn jeder mitspielt. Also nichts wirklich bedeutendes im 18. Jahrhundert.

 

Im 17. kam die Stadt gar nicht erst dazu, Luft zu holen und etwas Bedeutendes aus sich zu machen. Der 30-jährige Krieg brach mit einigen Jahren Verzögerung über sie herein, und die Bürger hatten alle Hände voll zu tun, das Chaos zu überleben. Clever waren sie, das muß man ihnen lassen. Statt die Tore zu schließen, wenn wieder mal ein Soldatenhaufe zugange war, verhandelten sie mit ihnen, ließen sie durchziehen unter der Gewähr, daß sie die Häuser in Ruhe und die Finger von den Frauen ließen. Was auch ganz gut funktionierte. Natürlich war die Stadt am Ende ruiniert, aber die meisten Leute hatten überlebt. Das dicke Ende kam knapp 30 Jahre später, als unter dem General de Bussy (sprich: Büssie, sorry, hat nix mit Knutschen zu tun) die Stadt fast komplett plattgemacht wurde. Was brennen konnte, wurde verbrannt, was nicht brannte, durften die Bewohner selbst abreißen. Nur die Pfarrkirche blieb stehen, das Haus des Stadtschultheiß (heutige Platane), vermutlich die Magdalenenkapelle und noch zwei Häuser in der Oberstadt, die es heute aber auch nicht mehr gibt. Stellen Sie sich mal vor, die hätten damals noch den Heiligen Wendelin mitgenommen; dann hätte es den Bauboom anfangs des 18. Jahrhunderts sicher nicht gegeben.

 

 

 

 

Die nächsten drei Jahrhunderte in unserer Reihe waren   d i e  , in denen St. Wendel wirklich eine Bedeutung hatte, die sich nicht in zwanzig Jahren erschöpfte. D.h. eigentlich waren es sogar mindestens sechs oder sieben Jahrhunderte, aber aus dieser Zeit der ersten drei oder vier wissen wir nur sehr wenig. Aber in dieser Zeit entstand die Verehrung des Heiligen Wendalinus. Wir wissen nicht, wie sie begann, ob es eine Initialzündung gab oder ob es ein schleichender Prozeß war. Aber sicherlich gab es damals schon Handelsbeziehungen zwischen hier und sonstwo, denn irgendwie muß die Kunde über diesen "neuen" Heiligen in die weite Welt getragen worden sein. Denn die Wallfahrt wurde überregional und schließlich gar international. Die Leute kamen von überall her, und sie kamen stetig und in großer Zahl. Erzbischof Balduin in Trier erkannte das Potential dieser Wallfahrt und förderte sie energisch, in dem er erst die Häuser des Ortes um die erste Kirche kaufte und dann dem Ort die Möglichkeit zukommen ließ, städtische Rechte nach Frankfurter Vorbild in Anspruch zu nehmen. Sein wichtigstes Projekt aber war der Um- bzw. Neubau der Wallfahrtskirche. Seine Nachfolger bauten St. Wendel zur Stadt aus (Stadtmauer 1388). Mitte des 15. Jahrhunderts geschahen innerhalb kurzer Zeit fünf Dinge, die bis heute kaum jemand in Zusammenhang gebracht hat resp. sich dies traute. Der Trierer Erzbischof schenkte der Kirche einen Platz vor der Kirche, um darauf eine Kaufhalle zu bauen; damit wurde die örtliche Wirtschaft stark gefördert, weil es jetzt einen Platz gab, an dem man auch bei schlechtem Wetter Markt halten konnte. Der dritte Bauabschnitt der Pfarrkirche, die Errichtung des Schiffs, wurde in Angriff genommen. Die heute noch bestehende Sebastianusbruderschaft wurde gegründet. Johann von Oppenheim und seine Ehefrau Trine stifteten das St. Wendeler Hospital. Nikolaus von Cues wird Komandatarpfarrer von St. Wendelin. Bei der großen Wallfahrt Anfang des 16. Jahrhunderts war der Andrang der Pilger so stark, daß die Wendelslade irreparabel beschädigt wurde und ersetzt werden mußte. Aber in diesem 16. Jahrhundert beginnt auch der Niedergang in der Bedeutung der Stadt. Als 1512 Kaiser Maximilian das Grab des heiligen Wendelin besuchte, muß er wie 200 Jahre zuvor Balduin das darinsteckende Potential erkannt haben. Er veranlaßte, daß in Trier der hl. Rock wieder ausgestellt wurde. Viele Pilger kamen bald nicht mehr nach St. Wendel, sondern zogen nach Trier. Die Folgen für die Wallfahrt in St. Wendel müssen schlimm gewesen sein.

 

Bei der St. Wendeler Stadtführung ist diese Bedeutungseinteilung schwer zu vermitteln. Das 14. bis 16. Jahrhundert ist 500 bis 700 Jahre her. Das ist so lange her, daß es sich heute kaum noch jemand vorstellen kann. Die Mentalität der Menschen damals, bei denen die Religion ein wesentlicher Bestandteil des Lebens war, können wir nicht oder nur sehr schwer nachvollziehen. Noch schwieriger ist es, sie zu vermitteln. Das können wir nicht, in dem wir uns darüber lustig machen oder sie mit unserer zeitlichen Distanz betrachten. Aber das letztere tun unsere Gäste. Wir Stadtführer sind mittendrin und springen zwischen den Zeiten und Welten hin und her und fühlen uns dort mehr oder minder zuhause. Etwas von diesem Gefühl an unsere Besucher weiterzugeben, das ist ein wichtiger Aspekt der Stadtführung.

 

Historische Forschungen · Roland Geiger · Alsfassener Straße 17 · 66606 St. Wendel · Telefon: 0 68 51 / 31 66
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