Schriftzug
17. Jahrhundert -> 1613 und 1883 11 Komma sechs

11 Komma sechs

 

Wir treffen an vielen Orten auf die Geschichte unserer Heimatstadt St. Wendel. Sie begegnet uns in den Erzählungen älterer Mitbürger, in alten Urkunden und Dokumenten in den beiden großen Archiven unserer Stadt und in Form von meist steinernen Monumenten. Mit allen ist sorgsam umzugehen: die Erzählungen gründen auf Erinnerungen an Erlebtes, das meist ziemlich lange her ist und dessen Wahrheit im Laufe der Zeit durch Gehörtes aufgepeppt wurde. Ein gutes Beispiel dafür sind die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg.

 

Bei den alten Urkunden ist es ganz anders. Sie stellen ziemlich klar einen Sachverhalt dar; aber nur selten erklären sie diesen Sachverhalt, denn dem Schreiber war klar, um was es sich handelte. Er dokumentierte die Geschehnisse, davon ausgehend, daß der Leser ebenfalls weiß, um was es geht. Deshalb erscheinen manche schriftliche Belege aus der Zeit von vor vierhundert Jahren einfach nur wie böhmische Dörfer. Die Schrift können wir meistens lesen, allein der Sinn bleibt uns fremd. Wie zum Beispiel die Darstellung von Schwein und Glocke in der Ablaßurkunde, die im April 1360 in Avignon für St. Wendel ausgestellt wurde - eine Abbildung findet sich in Selzers St. Wendelin, 2. Auflage, auf Seite XVI.

 

 

 

 

 

Aber manchmal gelingt es uns, eine Verbindung herzustellen zwischen den Dokumenten und den Monumenten.

 

In den vielen vergangenen Jahren wurde schon mancherlei Aufsatz über die Inschriften veröffentlicht, die sich im Außenbereich der Wendalinusbasilika befinden. Am besten dokumentiert wurde der sog. Peststein, ein Chronogramm, bei dem  sich das Jahr, in dem es angefertigt wurde, durch Addition der Großbuchstaben innerhalb des Textes als lateinische Zahlzeichen ergibt.

 

 

 

Ein anderes Beispiel ist das Kreuz am Außenpfeiler rechts des Südturms mit seinem rätselhaften Text "Anno 1613 Apollonia Printemps". Hier lieferte Dr. Rüdiger Fuchs von der Universität Mainz den entscheidenden Hinweis. Er schrieb mir, das Kreuz gehöre zu einem Friedhof, eben dem Kirchhof, der sich bis vor 230 Jahren um die Kirche erstreckte. Im Jahre 1613 wurde unterhalb dieses Kreuzes eine Frau namens Apollonia bestattet; ihr Name war "Printemps" - "Frühling". Leider setzen die Sterbebücher erst gut 80 Jahre später ein. Der Außenpfeiler dient ihr als Grabstein.

 

 

 

 

 

 

 

Auf der Südseite der Basilika befindet sich unterhalb der Sakristei ein Kellerraum, in dem die Heizung der Kirche untergebracht ist. In der Außenwand sieht man zweimal zwei schwarze Fenster. Zwischen dem zweiten und dritten Fenster kann man etwa in Kniehöhe eine etwa 20 cm hohe und breite, quadratische Platte erkennen, die auf der Wand angebracht ist. Sie zeigt den Eintrag "II,6" und fehlte bisher in der Inschriftensammlung völlig bzw. wurde ignoriert. Was daran gelegen haben mag, daß niemand auch nur eine Idee hatte, was damit gemeint war. Eine Stelle aus der Bibel vielleicht, aber solche Darbietungen sind nicht Sitte bei den Katholiken.

 

 

 

 

Die Lösung des Rätsels ist eigentlich profan. Sie liegt in einer Akte des St. Wendeler Stadtarchivs (C5-7) über Hochbaumaßnahmen in St. Wendel im 19. Jahrhundert. Auf Seite 317 dieser Akte liegt ein Bauantrag der katholischen Kirchengemeinde von 1875, die an der Südseite der Kirche etwa in Höhe der heutigen Sakristei, die damals noch nicht existierte, zwischen zwei Außenpfeilern ein eisernes Schutzgitter einsetzen wollte. Nun muß man wissen, daß früher die Straße auf der Nordseite der Kirche, die heute "Fruchtmarkt" heißt, städtisches Eigenum war, während die Straße auf der Südseite dem Landkreis gehörte und einen Teil der Tholey-St. Wendel-Kaiserslauterner Bezirksstraße bildete. Um nun Punkte entlang dieser Straße mehr oder minder exakt bestimmen zu können, war sie in 100-Meter-Stücke eingeteilt worden, deren Positionen durch kleine steinerne Tafeln an Ort und Stelle präsentiert wurden. So gibt die kleine Tafel unterhalb der Sakristei die Entfernung dieser Position zum Beginn der Straße in Tholey mit elf Kilometern und 600 Metern an.

 

Ich habe die Strecke mit Hilfe des Programms DigTK25 nachgemessen, das vom Landesamt für Vermessungswesen auf CD-Rom zur Verfügung gestellt wird. Danach begann die vorgenannte Bezirksstraße in Tholey an der Straßenkreuzung (die eigentlich gar keine ist, weil nur drei Straßen aufeinandertreffen) der St. Wendeler Straße (B 269), die sich nach Süden als Trierer Straße fortsetzt), und der Theleyer Straße (L 135). Die Bezirksstraße folgte dem heutigen Straßenverlauf durch Alsweiler und Winterbach am Harschbergerhof und den heute ehemaligen Kasernen vorbei und stieß vom Tholeyerberg herab in Richtung St. Wendels Südbezirke. Hier stand ihr seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der St. Wendeler Bahnhof im Wege, den sie in einem Bogen nach Norden umging. Durch die auch heute noch existierende Unterführung kommend wandte sie sich nach links in die Mommstraße und bog vorn vorm Bahnhof in die Bahnhofstraße ein. Hinterm Schloßplatz bog sie vorm heutigen Rathaus in die Schloßstraße ein (das mußte sie auch, denn geradeaus die Wendalinusstraße gab es nur als schlammigen Pfad durch die untere Bosenbach). Am sog. ?Bruchschen Haus? bog sie nach links in die Balduinstraße und zog südlich des Doms (sic!) vorbei nach Osten. Am heutigen Saalbau folgte sie der Balduinstraße, wo sie am Kappesbord auf die heutige Wendalinusstraße traf und auf dieser wieder nach Osten abbog. An der heutigen Kreuzung nahm sie den Weg in die Werschweilerstraße und folgte ihr, bis sie draußen im Wald die St. Wendeler Gemarkung wieder verließ.

 

Diesem Verlauf folgend erreichen wir nach 11,6 Kilometern exakt unsere Tafel an der St. Wendeler Basilika.

 

Diese Hinweistafeln waren alle 100 Meter angebracht, aber meines Wissens ist diese die einzige, die sich auf dem St. Wendeler Stadtgebiet erhalten hat. Schade drum.

 

Historische Forschungen · Roland Geiger · Alsfassener Straße 17 · 66606 St. Wendel · Telefon: 0 68 51 / 31 66
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