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Krieg am Boden -> Feldwebel Breuer hat genug

Feldwebel Breuer hat genug

von Charles Whiting

 

Der Amerikaner Charles Whiting hat einige Bücher über den Zweiten Weltkrieg geschrieben; sein Steckenpferd ist der Westwall, den die Alliierten die "Siegfried-Line" nannten. In seinem Buch "Siegried - the Nazi's last stand", erschienen 1980 in englischer Sprache, schreibt er über die Einnahme eines kleinen Ortes südwestlich von Saarbrücken durch Einheiten der Siebten US Armee - und über einen deutschen Feldwebel, der die Nase gestrichen voll hat.

 

"Als die müden Amerikaner sich so gut wie möglich in dem kleinen Ort einnisteten, entschied Feldwebel Heinz Breuer, daß der Krieg für ihn vorbei war. Er kroch durch die Dunkelheit zum östlichen Ende des Dorfes hinaus und duckte sich jedesmal, wenn eine Leuchtrakete in den Nachthimmel zischte oder eine Garbe Leuchtspurgeschosse über die Straße jagte, die mit zerstörtem Kriegsgerät übersät war.

 

Er hatte seinem kleinen Trupp, der aus vier 16-jährigen Jungen, einigen alten Männern und einem verwundeten jungen Leutnant, der auch noch nicht älter als 17 war, gesagt, was er tun würde, aber keiner von ihnen hatte auch nur versucht, ihn aufzuhalten oder ihm zu folgen. Breuer, ein kräftiger ehemaliger Bergmann in den frühen Dreißigern, wußte nicht, warum er das tat - und zu diesem Zeitpunkt war es ihm auch egal. "Ich habe die Nase voll" sagte er zu der müden, von Läusen geplagten Ansammlung von Pappsoldaten, wie er sie nannte, die sich in dem Keller verkrochen hatte, "ich gehe nach Hause."

 

Er war an der rechten Hüfte verwundet, eine Hand war gebrochen, und er hatte ein Loch im Magen, aus dem jedesmal die Eingeweide hervorquollen, wenn er furzte. So entkam er und pfiff auf Hitler, die Wehrmacht und den Krieg. Feldwebel Breuer ging nach Hause.

 

Im Jahre 1935, als die Saar zurück ins Reich kam, arbeitete der Sozialist Breuer als Bergmann in einer Kohlengrube nahe St. Wendel. Als die Nazis kamen, wurde er verhaftet und für ein paar Monate in ein "Umerziehungslager" gesteckt. Die Umerziehung hatte aus Brot und Wasser und Schlägen bestanden, was bei ihm zu einer gebrochenen Nase und einer tiefen Abneigung gegen die Braunhemden führte.

 

Aber er hatte ihnen doch loyal gedient. Er hatte dabei geholfen, den gleichen Westwall aufzubauen, den er noch vor ein paar Minuten verteidigt hatte; er hatte nacheinander in Griechenland, Afrika und Rußland gekämpft und war während dieser langen Einsätze zum Feldwebel befördert worden. Mit anderen Worten: Feldwebel Breuer war typisch für viele Deutsche seiner Zeit. Er kämpfte, weil er mußte und weil er Deutscher war; es war sein Vaterland, das er verteidigte, nicht Hitlers Brut.

 

Er kämpfte für "Mutti" zuhause in St. Wendel und seine drei Kinder, von denen er sehnlichst hoffte, daß sie niemals das gleiche durchmachen mußten wie er und sein Vater und sein Großvater seit 1870 hier an der blutigen Grenze zwischen Frankreich und Deutschland.

 

Jetzt kroch er alleine durch diese Märznacht und war trotz seiner schweren Verwundung Realist genug, um zu wissen, daß um ihn herum nur Feinde waren - wenn er hier hinter der Front von den Kettenhunden aufgegriffen worden würde, dann würden sie ihn als Verräter oder Feigling erschießen. Er wußte, daß Deutschland verloren war oder besser gesagt: Hitlers Deutschland. Breuer aber wollte überleben.

 

Aber Hitler und das Oberkommando schienen das nicht zu wissen. Die Generäle verteilten das Eiserne Kreuz gleich eimerweise, um die Soldaten zum Kämpfen zu ermutigen. Jeder, der von seiner Einheit abgeschnitten wurde und es schaffte, wieder zu den eigenen Linien zurückzukehren, wurde mit dieser hohen Auszeichnung belohnt. Als sie den Generalbefehl aus Berlin hörten, sagten die Frontkommandeure: "Dann verdient jeder Soldat, der noch nicht gefallen oder Kriegsgefangener ist, das Eiserne Kreuz."

 

Aber es gab viele Bedrohungen, die die Männer dazu veranlaßten, die Frontline am Westwall an der Saar zu halten. Erhängungen und Erschießungen durch Schnellgerichte, die von SS-Offizieren durchgeführt wurden - den sog. "Fliegenden Gerichten", wie sie von den verängstigten Soldaten genannt wurden - waren an der Tagesordnung. Nicht nur Feiglinge und Deserteure wurden erschossen, sondern auch Soldaten, die es nicht geschafft hatten, eine Brücke in die Luft zu jagen, oder die sich ohne Befehl zurückgezogen hatten.

 

Die Front wurde noch dazu von Propaganda überschwemmt, mit der man versuchte, die kriegsmüden Landser, so bezeichneten sich die deutschen Soldaten selbst, bei der Stange zu halten. Durch Flugblätter und Wochenschauen, organisiert von Goebbels Propagandaministerium, wurden den Soldaten folgendes gesagt: "Das wirtschaftliche Wohl Deutschland wird unter die Verfügungsgewalt Moskaus gestellt werden und geplante Hungersnöte als Mittel der Erpressung angewendet. Die Arbeitskraft der Deutschen wird für Reparationsarbeiten benutzt, und Tausende von Sklavenarbeitern werden ihren Familien entrissen und nach Sibirien deportiert. Deutsche Frauen werden von menschlichen Bestien verschleppt, vergewaltigt und ermordet. Deutsche Kinder wird man ihren Familien entreißen, verschleppen und als Bolschewisten aufziehen. Das deutsche Volk als solches wird ausgelöscht werden, und die Überlebenden werden nichts haben, für das es sich zu leben lohnt. Die momentanen Nöte und Leiden sind nichts verglichen mit dem, was unsere Feinde mit uns vorhaben. Alle Deutschen müssen sich gegen dieses Schicksal erheben und als eine große nationalsozialistische Armee kämpfen."

 

Aber weder Propaganda noch Bedrohungen hatten viel Einfluß auf den einsamen Unteroffizier, der durch die Märznacht kroch. Er kam drei Kilometer, und kurz bevor er zusammenbrach (um - überraschend genug - von einer russischen Zwangsarbeiterin gerettet und versorgt zu werden - einem 17-jährigen Mädchen, das auf dem Bauernhof an der Saar geblieben war, als der deutsche Eigentümer flüchtete), sah Breuer Körbe, die rechterhand der Straße von den Bäumen herabhingen.

 

Doch es waren keine Körbe; es waren die Leichen deutscher Soldaten, die sich wie er gesagt hatten, daß es keinen Zweck hätte, weiter den Westwall zu verteidigen und die man geschnappt hatte. Als er im Licht einer verlöschenden Signalrakete weiterkroch, konnte Feldwebel Breuer grad noch die Schilder lesen, die man an den grotesk verdrehten Hälsen der Männer befestigt hatte: "Abtrünniger ... Verräter ... Deserteur ... Volksparasit". Und er bemerkte, daß dieselben, die die namenlosen Landser hingerichtet hatten, ihnen auch die Stiefel ausgezogen hatten. "Vielleicht" - dieser absurde Gedanke ging ihm durch den Kopf - "brauchten sie die, um selbst schneller laufen zu können!".

 

Fünf Minuten später verlor Breuer die Besinnung und ließ die alten Männer, die Jungen und den verwundeten Leutnant hinter sich zurück, die im Dorf den Westwall verteidigten - bis zum bitteren Ende."

 

Nachwort

 

Wenn ich ein Buch über den 2. Weltkrieg in Händen halte, schaue ich unwillkürlich nach, ob etwas über St. Wendel drinsteht. Meistens sind es englische oder amerikanische Bücher, und da es seit Jahrhunderten und gerade in Geschichtsbüchern Sitte und Brauch ist, daß einer bei dem anderen abschreibt (das ist noch nicht mal eine Kritik, denn schließlich mache ich das bisweilen auch, auch wenn dann noch eine Übersetzung ins Deutsche dazwischen liegt), finde ich meistens die gleichen Stellen, auf die eine oder andere Art abweichend, doch meistens mit dem gleichen Inhalt wieder.

 

Ich war daher schon überrascht, als mich mein Freund Stefan Reuter aus St. Ingbert vor ein paar Jahren auf einen Artikel in einem englischen Buch über den Westwall aufmerksam machte, in dem über einen deutschen Soldaten aus St. Wendel berichtet wurde.

 

Auf der Frankfurter Buchmesse im Oktober 2001 besorgte ich mir ein Exemplar des Buches "Siegfried: the Nazi's last stand" (Die Siegfriedlinie, das letzte Bollwerk der Nazis) des Amerikaners Charles Whiting, der als junger Soldat seine eigenen Erfahrungen mit dem Westwall sammelte. Nachdem ich das Buch gelesen hatte, suchte ich den Feldwebel Heinz oder Heinrich Breuer in St. Wendel. Nun ist Breuer ein eher seltener Name und im Umkreis von St. Wendel eher schwer zu finden. Heutzutage gibt es ihn hier nur noch dreimal. Ich nahm Kontakt zu diesen Familien auf, doch dort gab es keinen Heinrich und hatte es nie einen gegeben.

 

Whiting bezieht sich in seinen Aufzeichnungen im Anhang des Buches aber auf ein persönliches Gespräch, das er während der Recherchen mit Heinrich Breuer in St. Wendel führte. In den Einwohnerverzeichnissen von 1933 und 1938 findet sich in St. Wendel nur ein Karl Bräuer, Reichsbahnwerkmeister, und ein Paul Breyer, Kraftfahrer. Der Eisenbahnarzt Robert Breyer wohnt in Namborn. In Pinsweiler gibt?s den Namen "Brenner".

 

Auch über den Ort "Brahn", der an der deutsch-französischen Grenze liegen soll, konnte ich bisher nichts herausfinden. Aus den (nicht übersetzten) vorhergehenden Seiten des Buches geht hervor, daß die amerikanischen Soldaten, die den Ort angriffen, zur 70. Infantriedivision, Siebte US-Armee, gehörten, die ein paar Tage darauf Saarbrücken besetzten. Damit ist der Bereich, in dem der Ort liegen muß, auf das Grenzgebiet südwestlich von Saarbrücken begrenzt.

 

Über den Buchverlag kam ich in Kontakt mit Charles Whiting, der in England wohnt, und fragte ihn nach Heinz Breuer und seiner Adresse und außerdem dem kleinen Ort, in dem die o.a. Episode stattfand. Whiting teilte mir bedauernd mit, daß seine Notizen zum Buch, das er 1980 veröffentlicht hatte, verlorengegangen seien.

 

Schade, ich hätte gerne erfahren, ob Feldwebel Breuer es geschafft hat.

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