"Mit großer Liebenswürdigkeit"
Einleitung
"Im Namen des Königs!
In der Strafsache gegen den Kaufmann Eugen Berl aus St. Wendel, geboren am 8. November 1870 zu Merzig, israelitisch, wegen Beleidigung hat die Erste Strafkammer des Königlichen Landgerichts in Saarbrücken für Recht erkannt: der Angeklagte wird wegen Vergehens gegen §§ 185 [Beleidigung], 186 [Üble Nachrede], 200 [Beleidigung öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften] Strafgesetzbuch zu einer Geldstrafe von fünfundsiebzig Mark, an deren Stelle im Beitreibungsfalle für je 5 Mark ein Tag Gefängnis tritt, und zu den Kosten des Verfahrens verurteilt.
Dem Beleidigten, Gerichtsschreiber Roeder in St. Wendel, wird die Befugnis zugesprochen, den erkennenden Teil des Urteils binnen einem Monat nach Zustellung des rechtskräftigen Urteils durch einmalige Einrückung in das St. Wendeler Kreisblatt auf Kosten des Angeklagten in folgender Form bekanntzumachen:
Der Angeklagte, Kaufmann Eugen Berl aus St. Wendel, war durch Urteil der Strafkammer des Königlichen Landgerichts zu Saarbrücken vom 4. Oktober 1904 wegen öffentlicher Beleidigung des Gerichtssekretärs Roeder zu seinem Ende zu einer Geldstrafe von 75 Mk. verurteilt worden."
An dieser Sitzung im Oktober 1904 haben teilgenommen:
als beisitzende Richter:
Landgerichtsrat Zwicke
Gerichtsassessor Dr. Meyer
Gerichtsassessor Dr. Müsch
Gerichtsassessor Dehns
Als Beamter der Staatsanwaltschaft: Gerichtsassessor Clar
Als Gerichtsschreiber: Justizanwärter Schlänger
Vorsitzender war Landgerichtsdirektor Heidermanns.
Im Jahre 1889 wird der junge jüdische Referendar Max Bodenheimer an das Amtsgericht in St. Wendel versetzt. In seiner Biographie schreibt er viele Jahre später: "Ich durfte es dann als eine besondere Ehre schätzen, daß mich der Krocketclub der Damen, der in der Auswahl der Herren sehr exklusiv war, durch den Amtsrichter Heidermanns zu den Spielnachmittagen im Garten des Kasinos einlud. Im Hause des Amtsrichters und seiner jungen Frau wurde ich mit großer Liebenswürdigkeit empfangen. Auch in dienstlicher Hinsicht war er mir gewogen und förderte meine Versetzung nach Köln."
Unsere lokalgeschichtliche Literatur kennt den Amtsrichter Heidermanns überhaupt nicht. Die entsprechenden Akten sind hier im Amtsgericht so weit zurück nicht mehr vorhanden, die nach Saarbrücken zu lieferenden Durchschläge fielen den amerikanischen und britischen Bomben, die Saarbrücken pulverisierten, oder spätestens 1949 dem großen Hochwasser zum Opfer, das das Saarbrücker Landgericht bis zur ersten Etage "landunter" setzte. Ich konsultierte eine CD, auf der das deutsche Telefonverzeichnis aufgebrannt ist, und fand vier Einträge auf den Namen "Heidermanns". Ich sprach auf einen Anrufbeantworter, hörte einem Telefon erfolglos beim Klingeln zu und sprach dann mit Frank Heidermanns in Köln (Verfasser des Buches "Etymologisches Wörterbuch der germanischen Primäradjektive", erschienen 1993 in Köln). Er hatte sich vor Jahren mit Familienkunde beschäftigt, suchte den Seitenzweig der Familie heraus, zu dem der Amtsrichter gehört, und gab mir ein paar Grundinformationen über Heidermanns und dessen Frau Paula. Er wußte, daß Heidermanns Tochter Paula einen Heinrich Verbeek aus Weiden bei Köln geheiratet hatte, und nannte mir den Namen eines lebenden Nachfahren. Ich rief also Hans Verbeek in Köln an, der mir empfahl, Dr. Paul Verbeek in Wachtberg-Pech bei Bonn anzurufen, einen direkten Enkel von Johann Joseph Heidermanns. Dr. Verbeek, Botschafter a.D. (unter anderem am Heiligen Stuhl im Vatikan) erinnerte sich am Telefon an einen Totenzettel, den er in seinen Unterlagen aufbewahrte, und versprach, mir diesen zuzusenden. Was statt dessen eintraf, waren sechs Seiten biographische Notizen, die sein verstorbener Bruder Heinrich Verbeek recherchiert und aufgezeichnet hatte. Dr. Verbeek gab mir freundlicherweise die Genehmigung, diese Notizen für einen biographischen Artikel über seinen Großvater zu verwenden.
Er schrieb dazu: "Ich habe ihn (den Großvater) nicht kennengelernt. Er verstarb 12 Jahre vor meiner Geburt. Er war, wie meine Mutter und meine Tante Anna immer erzählten, eine sehr warmherzige und weltoffene Persönlichkeit. In diesem Sinne kann er als ein "Liberaler" bezeichnet werden. Seine doch steile Karriere in der preußischen Justiz wurde damals für einen Katholiken als ungewöhnlich empfunden, sein früher Tod allgemein sehr bedauert. Politisch stand er dem rheinischen Katholizismus nahe. In der Familie Heidermanns wurde stets das Zentrum, die rheinisch-westfälische katholische Partei also, gewählt, die als Reaktion auf den Kulturkampf Bismarcks entstanden war. Auch seine Haltung zu dem Juden Max Bodenheimer möchte ich aus seiner sehr fest gegründeten christlichen Gesinnung ableiten. Bodenheimer war ihm - Jude hin oder her - ein Mitmensch, ein Nächster also. So hat er ihn dann auch in seinem Haus empfangen, das übrigens ganz allgemein als gastfrei und offen gegenüber jedermann galt. Diese Offenheit und Gastfreiheit entsprach auch im übrigen ganz dem Wesen und dem Geschmack seiner Frau Paula geb. Poeth.
Daß in der Familie meines Großvaters keine Judenhetze aufkommen konnte, entsprach einem Geist, der sich in seinen Kindern fortsetzte. Meine Tante, Anna Heidermanns, seine älteste Tochter, war an der Wende der 20er zu den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts Generalsekretärin des Katholischen Deutschen Frauenbundes. Sie war unverheiratet und lebte in meinem Elternhaus. Politisch war sie sehr streitbar. Noch nach der Machtübernahme in Deutschland durch Hitler wandte sie sich in öffentlicher Rede in den Kölner Messehallen gegendie Nazi-Ideologie, die, wie sie sagte, mit dem christlichen Menschenbild unvereinbar sei. Dies brachte ihr Gestapo-Verfolgung ein, von der ich in meiner Kindheit so Erfahrungen sammeln konnte."
Kindheit und Jugend
Vor Franz Hubert Krosch, dem Bürgermeister der Bürgermeisterei Rödingen, Kreis Jülich, Regierungsbezirk Aachen, der gleichzeitig auch als Civilstandsbeamter fungierte, erscheint am 25. Februar 1856 um neun Uhr morgens der Ackerer Johann Peter Heidermanns, 39 Jahre alt, katholisch, in Begleitung seines Schwagers Josef Esser und erklärt, daß von seiner Ehefrau Anna Maria Catharina geborene Esser, wohnhaft zu Rödingen, 36 Jahre alt, am Vortag, 24. Februar, morgens um zwei Uhr in seiner Wohnung ein Kind männlichen Geschlechts geboren sei, welchem die Namen Johann Joseph beigelegt wurde. Der Bürgermeister stellt eine Urkunde aus, die von den beiden anwesenden Zeugen und dem Vater des Kindes unterzeichnet wird. Krosch gibt an, daß der zweite Zeuge, ein 44 Jahre alter Dienstknecht namens Franz Schmitz, des Schreibens und Handzeichenmachens unerfahren zu sein sich erklärte, worauf ihm der Bürgermeister beim Unterzeichnen die Hand führt.
Johann Peter Heidermanns und seine Frau Catharina Esser wohnen in Rödingen in seinem Elternhaus zusammen mit seinen Eltern Johannes Heidermanns und dessen Ehefrau Adelheid geborene Franken und seinen Schwiegereltern Peter Josef Esser und Maria Agnes geborens Cajens. Johann Peter wird später der Amtsnachfolger von Bürgermeister Krosch. Aus den biographischen Angaben auf dem Totenzettel von Bürgermeister Heidermanns aus dem Jahre 1877 ist zu entnehmen: "Seine Kenntnisse und Fähigkeit im Amte sind auch von der vorgesetzten Behörde anerkannt worden. Deswegen beantragte der Herr Bürgermeister Franz Krosch zu Bettenhoven bei seinem Ausscheiden ihn zu seinem Nachfolger, wozu er auch von der Königlichen Regierung bestätigt wurde".
Johann Peter und Catharina Heidermanns haben drei Söhne, auf Johann Josef folgt Josef am 07.07.1858 und Wilhelm am 13.03.1864.
Im Herbst 1868 tritt der jetzt zwölfjährige Johann Josef Heidermanns in die Quarta des Quirinus-Gymnasiums in Köln-Neuß ein. Er bleibt dort bis zu seinem neunzehnten Lebensjahr und legt im Jahre 1875 sein Abitur ab. Seine Lehrer bezeugen ihm stets gutes Leistungen, so zum Beispiel in seinem Zeugnis vom 23.08.1872: "Schulbesuch und Leistungen gut; Aufmerksamkeit und Fleiß gut. Er hat sich das Pensum der Untersekunda gut angeeignet." Der Ordinarius der Ia vom 14. April 1875 fügt dem Zeugnis eine Bemerkung hinzu: "Der Johann Josef Heidermanns ist gegenwärtig Oberprimaner des hiesigen Gymnasiums und hat sich bis dahin vorzüglich geführt." Im April 1875 bewirbt sich dieser Oberprimaner, der in Neuß bei einem Metzger namens Hüpgen wohnt, um Zulassung zum einjährigen Militärdienst der Freiwilligen.
Während seiner Zeit auf dem Neußer Gymnasium lernt er die gleichaltrige Paula Poeth, seine zukünftige Frau, kennen. Ihr Vater, Dr. Josef Poeth, starb schon 1856, im Jahre ihrer Geburt. Die halbwaise Paula lebt im Elternhaus ihrer Mutter, einer geborenen Schmitz, die ihren Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Tuchen und Kurzwaren verdient. Es habe zwischen Johannes und Paula mit einer Bekanntschaft "über den Zaun" angefangen, so sagt die Familienüberlieferung, und es sei dann eine wirkliche Jugendliebe daraus entstanden.
An das Abitur in Neuß schließt sich ein vierjähriges Studium der Rechtswissenschaften an den Universitäten Leipzig, Tübingen und Bonn an. In Bonn wird Heidermanns Mitglied der Studentenverbindung Bavaria. Am 7. Juli stirbt sein Vater Johann Peter Heidermanns, langjähriger Bürgermeister von Rödingen, im Alter von 63 Jahren.
Nach seinem Studium verbringt Heidermanns seine einjährige Referendarszeit beim Friedensgericht in Jülich, heimatnah, wie man heute sagt. Im Anschluß an das Referendariat folgt ein einjähriger Militärdienst bei der Feldartillerie in Köln am Rhein. Am 15. Dezember 1881 wird der Vice-Feldwebel des 1. Rheinischen Landwehr Regiments Nr. 25, Johann Heidermanns, zum Second-Lieutenant der Reserve der 1. Rheinischen Feldartillerie des Regiments Nr. 23 befördert. Er wohnt jetzt wieder in Neuß.
Am 5. April 1882 stirbt seine Mutter Catharina geborene Esser im Alter von 63 Jahren.
Nach mit "Ausreichend" bestandener großer Staatsprüfung wird Heidermanns mit Wirkung vom 7. Juli 1884 zum Gerichtsassessor ernannt und am 18. Juli 1884 dem Königliche Amtsgericht in Düren zur unentgeltlichen Beschäftigung zugewiesen. Am 2. Juni 1885 vermählt er sich mit Paula Poeth in Neuß. Die kirchliche Trauung wird von Wilhelm Esser, einem Onkel Heidermanns mütterlicherseits, vollzogen, der damals Pfarrer zu Johann Baptist in Köln und eigens für die Trauung aus Köln nach Neuß anreist.
Johann Josef Heidermanns und seine Ehefrau Paula geb. Poeth.
Das Foto ist in Düsseldorf entstanden, wo Heidermanns 1892 bis 1902 als Amtsgerichtsrat tätig war.
(zur Verfügung gestellt von Dr. Paul Verbeek, Wachtberg-Pech)
Amtsrichter in St. Wendel
Am 26. Januar 1887 erhält er seine Bestallung zum Amtsrichter. Er wird mit einem Jahresgehalt von 2.400 Reichsmark plus Wohnungsgeldzuschuß an das Amtsgericht St. Wendel im Saarland versetzt, wo er am 16. Februar seinen Dienst antritt.
Am 12. März des gleichen Jahres, abends um halb elf, wird in der Wohnung der Familie Heidermanns die älteste Tochter, Anna Katharina Pauline Josephine, geboren. Ihr folgt am 3. November 1889 "vormittags zwölf ein Viertel" eine zweite Tochter, die auf den Namen Paula Huberta Wilhelmine getauft wird.
In St. Wendel wohnt die Familie Heidermanns in einer Dienstwohnung im Hildegardisheim, dem Sitz des Amtsgerichtes. In jener Zeit gibt es in St. Wendel noch keine offizielle Straßennamen, deshalb wird die Adresse im Einwohnerverzeichnis von St. Wendel aus dem Jahre 1891 [Stadtarchiv St. Wendel, C 1/131] mit "128f" angegeben. Im gleichen Haus wohnt eine Magd mit Namen Elise Krosch. Sie ist vermutlich eine Verwandte von Franz Hubert Krosch, dem Vorgängers von Heidermanns Vater im Bürgermeisteramt in Rödingen, ggf. sogar seine Tochter. Es ist anzunehmen, daß sie im Haushalt der Heidermanns als Magd arbeitet.
Das Hildegardisheim in St. Wendel
(Ansichtskarte um 1930)
Am 17. November 1891 wird Heidermanns zum Premier-Lieutenant der Landwehr-Feldartillerie befördert. Ein paar Monate später, am 25. Februar 1892, erhält er anläßlich seines Ausscheidens aus dem Landwehr-Bezirk St. Wendel die "Landwehrdienstauszeichnung II. Klasse". Am 7. April werden seine Versetzungspapiere an das Amtsgerichts nach Düsseldorf ausgestellt.
Das St. Wendeler Volksblatt widmet ihm in seiner Ausgabe vom 25.06.1892 zum Abschied einen wohlgesonnenen Artikel: "Lokales und Provinzielles. * St. Wendel, 24 Juni. Zum Leidwesen der ganzen Bürgerschaft St. Wendels und sämmtlicher Insassen des hiesigen Gerichtssprengels hat uns heute Herr Amtsrichter H e i d e r m a n n s verlassen, um sein neues Amt in Düsseldorf anzutreten. Wohl selten hat noch ein Beamter in solcher Weise sich die Liebe und Verehrung und vor allem das gerade dem Richterstande unentbehrliche Vertrauen der Bevölkerung zu erwerben gewußt, wie Herr Heidermanns. Fern vom Parteigetriebe fand er seine einzige Aufgabe in der treuen Erfüllung seines Berufes. Möge es dem Scheidenden und seiner Familie auf ihrem weiteren Wege gut ergehen, mögen sie zuweilen ihres hiesigen Aufenthaltes gedenken, wie in den Mauern unserer Stadt stets ihrer voll Liebe und Anhänglichkeit gedacht werden. - An Stelle des Herrn Amtsrichters Heidermanns tritt Herr Assessor Weisweiler aus Köln vom 1. Juli ab."
Amtsrichter in Düsseldorf
Heidermanns verbringt zehn Jahre am Amtsgericht in Düsseldorf. Die Stelle ist 4.800 Reichsmark plus 200 RM Wohnungsgeldzuschuß doppelt so hoch datiert als in St. Wendel. Am 31. März 1898 unterzeichnet Kaiser Wilhelm II persönlich seine Ernennung zum Amtsgerichtsrath. Auch in seiner Militär-Reserve-Lautbahn tut sich etwas: Am 2. März 1900 wird dem Oberleutnant der Landwehr-Feldartillerie I. Aufgebots die Landwehr-Dienstauszeichnung I. Klasse verliehen. Während seiner Amtszeit in Düsseldorf wird am 1. Januar 1894 sein Sohn Hans geboren.
Landesgerichtsdirektor in Saarbrücken
Fast genau zehn Jahre nach seiner Versetzung nach Düsseldorf wird eine neue Versetzungsverfügung ausgestellt: Am 22. April 1902 wird Heidermanns zum Landesgerichtsdirektor in Saarbrücken ernannt. Sein Gehalt wird auf 5.400 Reichsmark mit einer Zulage von jährlich 600 RM fesgesetzt.
Ein Landesgerichtsdirektor, heutzutage "vorsitzender Richter" genannt und mit R3 besoldet, führt die Dienstaufsicht über die Richter der Zivil- und Strafkammer. Sein Vorgesetzter ist der Landesgerichtspräsident als Chef des Landesgerichts und sämtlicher Amtsgerichte, er führt die Dienstaufsicht über alle Rechtsanwälte, Notare und Gerichtsvollzieher.
In den Jahren 1904 und 1905 kommt es in Saarbrücken zum sogenannten Krämer-Hilger-Prozeß, der für reichsweite Schlagzeilen sorgt und in namhaften Zeitungen reichsweit abgedruckt wird. Die sozialdemokratische Partei hatte 1903 im pfälzischen St.Ingbert zu einer Bergarbeiterversammlung aufgerufen, weil man sich im preußischen Saarland weigerte, ihm ein Lokal zur Verfügung zu stellen.
Doch preußische Grubenbeamte kamen als Spitzel, wurden erkannt, und fast alle Bergleute verließen aus Angst die Versammlung. Zwei aber nicht: Karl Krämer und Nikolaus Neumann aus Sulzbach. Wie zu erwarten verloren die beiden tags darauf ihren Arbeitsplatz. Doch einmal abgelegt fand nun Krämer den Heldenmut eines geächteten Freiheitskämpfers. Er zeichnete verantwortlich für ein von Osterroth verfaßtes Flugblatt „Saarbergmann wach auf!“ Darin wurden die gesunkenen Löhne, die Arbeitskraftanstrengung und die bittere Not gegeißelt. Krämer verteilte die ersten 20.000 Exemplare in Arbeiterzügen, Schlafhäusern und an Grubentoren. Als die Polizei zugriff, erwischte sie nur noch 100 Exemplare. In dem Flugblatt war auch Geheimrat Ewald Hilger persönlich genannt und angegriffen. Darum wollte der allgewaltige Geheimrat dem kleinen Krämer eine Lektion erteilen.
Bei dem Prozeß stehen sich zwei politische Denkschulen gegenüber, wie sie unversöhnlicher nicht sein können. Auf der einen Seite sind die Nationalliberalen, angeführt von Geheimrat Ewald Hilger, dem Chef der saarländischen Gruben, stellvertretend für die preußische Regierung. Ihnen allen ist nicht bewußt, daß sich ihre allgewaltige Herrschaft über die Arbeiter, wie sie bis dato fast uneingeschränkt bestanden hat, ihrem Ende zuneigt. Sie meinen, über dem Gesetz zu stehen, sie meinen, sie seien das Gesetz.
Auf der anderen Seite steht die sozialdemokratische Partei, die damals noch stark von den Kommunisten durchsetzt ist. Sie versucht, an der Saar Fuß zu fassen, und engagiert sich daher in der Gemeinde der Bergarbeiter, die seit langem mit ihrem Los unzufrieden sind und daher ihre begeisterten Anhänger werden. Den "Klassenkampf" und die Bekämpfung des "Ausbeutersystems" hat sie sich auf ihre Fahnen geschrieben.
Aber es gibt im Saargebiet eine dritte Partei, der die Bevölkerung mehrheitlich anhängt: die Zentrumspartei. Sie istals Reaktion auf die Unterdrückungen entstanden, die die katholische Kirche in dem vorangegangenen sogenannten "Kulturkampf" durch das Preußen Bismarcks erlebt hatte. Sie vertritt weder ein Klassenkampfprogramm, wie es die sozialdemokratische Partei tut, noch hält sie es mit dem Unternehmertum, das sich auf die nationalliberale Partei stützt. Ihr Ideengut ist das der christlichen Soziallehre, das der in Rom residierende Papst Leo XIII. zu seinem Credo gemacht hat. Es ist dies das Ideengut, das Jahrzehnte später in das Vorzeigemodell der "sozialen Marktwirtschaft" Ludwig Erhards einmündet und Deutschland den wirtschaftlichen Aufstieg aus den Ruinen ermöglicht, die der 2. Weltkrieg hinterlassen hat.
Der vorsitzende Richter im Hilgerprozeß, Johann Joseph Heidermanns, steht als rheinischer Katholik dem Ideengut des Zentrums innerlich nahe. Zwar hält er die von der sozialdemokratischen Partei inspirierten Flugblätter für beleidigend und spricht sich deswegen für eine Verurteilung aus. Andererseits ist seiner Leitung des Prozesses deutlich anzumerken, daß er die existierenden Verhältnisse im Saargebiet nicht für der Weisheit letzten Schluß hält. Er sorgt dafür, daß die Zeugen, die diese Verhältnisse anprangern, vorbehaltlos zu Wort kommen. Hätte er, Heidermanns, ganz auf der Seite der Unternehmer gestanden, dann wäre der Prozeß, den Hilger auf drei Tage festgesetzt hat, auch in drei Tagen vorbei gewesen. Er sorgt dafür, daß der Proeß zu einem d e r Prozesse seiner Zeit wird. Der Reichstagsabgeordnete Wolfgang Heine, der als Vertreter der Verteidigung auftritt, reicht 69 Beweisanträge der Verteidigung ein, die zu einer Vertagung von zehn Wochen führen. Daß letztendlich der Angeklagte für schuldig befunden und zu drei Monaten Gefängnis verurteilt wird, liegt daran, daß dem Gesetz Genüge getan werden muß.
Der Verurteilte geht Revision an das Reichsgericht in Leipzig, das die Sache an das Landgericht in Trier zurückverweist. Dort wird die Gefängnisstrafe in eine Geldbuße umgewandelt. Das zeigt aber, daß man sich in Trier wie in Saarbrücken einig ist, daß der Verurteilte schuldig ist im Sinne des Gesetzes; wenn auch das Strafmaß unterschiedlich ausfällt, ein Freispruch ist nicht zu erwirken.
Wenige Tage nach dem Saarbrücker Urteil gibt der sozialdemokratische Parteivorstand in Berlin den stenographischen Verhandlungsbericht als eine 130-seitige Broschüre unter dem Titel „Saarabien vor Gericht“ heraus. Die Saarbrücker Parteileitung unter Osterroth erhält unentgeltlich 20.000 Exemplare. Die Verteilung gelingt trotz der insgesamt 18 Strafanzeigen wegen „Störung der Sonntagsruhe“ bis „Erregung öffentlichen Ärgernisses“, gefolgt von Geldstrafen in Höhe von insgesamt 1116 Mark. Aber Sulzbach und sein mutiger Bergmann Karl Krämer kommen in aller Munde.
Geheimrat Ewald Hilger wird in Folge des Krämer-Hilger-Prozesses nach Oberschlesien versetzt und dort zum Direktor der Vereinigten Königs- Und Laurahütte Aktien-Gesellschaft Für Bergbau Und Hüttenbetrieb ernannt.
Heidermanns Aufenthalt in Saarbrücken wird im Jahre 1909 durch einen persönlichen Schicksalschlag überschattet: Sein Bruder Josef, der im Heimatort Rödingen eine Apotheke führte, nimmt sich am 27. April das Leben.
Senatspräsident in Breslau
Acht Jahre nach seiner Versetzung nach Saarbrücken wechselt die Familie wieder ihren Wohnort. Am 14. November 1910 wird Heidermanns zum Senatspräsidenten beim Oberlandesgericht in Breslau ernannt. Sein Gehalt steigt auf stattliche 8.500 Reichsmark plus Wohnungsgeldzuschuß.
Am 1. Februar 1911 tritt Heidermanns offiziell seinen Dienst in Breslau an. In der ersten Zeit führt die Familie zahlreiche Antrittsbesuche bei den örtlichen Honoratioren durch. Heidermanns Tochter Paula erzählte ihren Kindern viele Jahre später vom Besuch der Familie bei dem Fürstbischof von Breslau, einem alten Herrn, der seinen Gegenbesuch auf folgende Weise durchführte: Er schickte seine leere Equipage zum Haus des Geehrten in der Goethestraße 24/26. Der Kutscher - in Livree gekleidet - gab an der Wohnungstür mehrere Visitenkarten seiner Eminenz ab, und zwar so viele, daß auch jede der Damen mit einer bedacht war.
Am 18. Januar 1912 wird Heidermanns schließlich der Rote Adlerorden Vierter Klasse verliehen.
Sein Sohn Hans dient im April 1913 als aktiver Leutnant im Oldenburgischen Infanterie Regiment Nr. 91 in Danzig. Am 21. April erhält er ein Telegramm seiner Schwester Anna, worin diese ihm mitteilt, daß sein Vater schwer erkrankt sei. Er läßt sich sofort beurlauben und reist nach Breslau. Johann Josef Heidermanns hatte sich einer Gallenoperation unterzogen. Durch einen Arztfehler kommt es zu einer Bauchfellentzündung. Heidermanns hat keine Chance, er stirbt nach zweitägigem Krankenlager am Mittwoch, 24. April 1913, um sieben Uhr fünfundvierzig abends. Sein Sohn Hans trifft seinen Vater nicht mehr lebend an.
Die Schlesische Volkszeitung gibt in einer eigenen Sterbeanzeige am 26. April die Umstände seines Todes bekannt und schließt: "Er genoß infolge seiner beruflichen Tüchtigkeit und seines liebenswürdigen Charakters in Richterkreisen hohes Ansehen".
Am nächsten Tag erscheint in der Schlesischen Zeitung ein Nachruf des Oberlandesgerichtes:
"Schon wieder steht das Oberlandesgericht am Sarge eines seiner Senatspräsidenten. Am 24. d. M. verschied im 58. Lebensjahre nach kurzer Krankheit Herr Senatspräsident Johann Joseph Heidermanns. Nur wenig mehr als zwei Jahre hat er unserem Kollegium angehört. Aber diese Zeit gemeinsamer Arbeit reichte aus, um uns erkennen zu lassen, wie viel wir an ihm verlieren. Rheinländer von Geburt, blickte er bereits auf eine erfolgreiche Tätigkeit in seiner Heimatprovinz, namentlich als Aufsichtsrichter des Amtsgerichts in Düsseldorf und als Landgerichtsdirektor in Saarbrücken, zurück, als er am 1. Februar 1911 sein hiesiges Amt antrat. Sein volles Verständnis für die Eigenart seiner neuen Heimat verband sich mit der Verwertung dessen, was er aus der rheinischen Rechtspflege mitbrachte, in der glücklichsten Weise. Die sichere Hoffnung, daß die Rechtsprechung des Oberlandesgerichts hieraus reichliche Förderung erfahren werde, hat sein vorzeitiger Tod vereitelt. Es bleibt uns nur übrig, der Verehrung und Dankbarkeit Ausdruck zu geben, die wir dem Entschlafenen für immer bewahren werden. Breslau, den 26. April 1913. Die Präsidenten und Räte des Oberlandesgerichts. Die Mitglieder der Oberstaatsanwaltschaft."
Seine Ehefrau Paula läßt private Sterbeanzeigen in der Schlesischen Volkszeitung und der Kölnischen Zeitung veröffentlichen.
Auch Heidermanns alte Studentenverbindung Bavaria bringt einen Nachruf. "Bavaria, Bonn, erfüllt hiermit die traurige Pflicht, ihre werten Herren Ehrenmitglieder, lb. A. H. A. H., Bundes- und Kartellbrüder von dem am 24. April in Breslau erfolgten Ablebens ihres lb. A.H. Johannes Heidermanns, Oberlandesgerichts-Senatspräsident, Oberleutnant der L. a. D. geziemend in Kenntnis zu setzen. Bonn, 27. April 1913. I. A.: Seppel M. Schauerle".
Johann Joseph Heidermanns wird am Sonntag, 27. April 1913, auf dem St. Corpus Christi-Friedhof zu Herdain feierlich beigesetzt. Das Requiem, die Totenmesse, wird am Tag darauf in der St. Nikolaikirche zelebriert. Weder das Grab noch der Friedhof sind heute noch vorhanden, sie wurden bei der Eroberung Breslaus durch die Russen gegen Ende des Zweiten Weltkrieges zerstört.
Die Witwe Heidermanns wohnt noch ein halbes Jahr mit ihren beiden Töchtern bei halber Miete in der Wohnung in Breslau, dann zieht sie nach Bonn in die Poppeldorfer Allee 31 um. Sie stirbt im Jahre 1915 in Bonn.
Erinnerungen und Aufzeichnungen
von Heinrich Verbeek
"Unsere Mutter (Paula) war 23 Jahre alt, als sie ihren Vater verlor. Sie hat ihn sehr geliebt und fühlte sich von ihm in ihrer stillen Art auch ohne Worte verstanden. So erzählte sie, wie sie als junges Mädchen ihren ersten Tanzball besuchte, ängstlich und mit starkem Herzklopfen. Ihr Vater erriet ihre Nöte. Er nahm seine Tochter am Arm und führte sie in den Saal und half ihr so, ihre Schüchternheit zu überwinden.
Mutter erzählte, der Großvater habe oft die Familie an seinen Überlegungen bei der Vorbereitung der Gerichtsprozesse teilnehmen lassen. Er haben ihnen den Fall vorgetragen, um zu hören, wie sie die Sache beurteilten "mit gesundem Menschenverstand". Und er habe ihre Meinungen sehr ernst genommen.
Besonders ein Fall war unserer Mutter unvergeßlich. Vermutlich hat sich die Geschichte in der Breslauer Zeit zugetragen. Angeklagt war ein Mann wegen Mordes. Er hatte seine Frau mit dem Beil erschlagen, dann aber versucht, einen Unfall vorzutäuschen, in dem er die Leiche auf der Kellertreppe hinunterstürzte und einen Brand anlegte, um die Spuren seines Mordes zu verwischen. Obwohl die Last der Indizien überwältigend war, leugnete er vor Gericht hartnäckig, die Tat begangen zu haben. Für unseren Großvater war es schrecklich, den Mann ohne Geständnis - auf Grund eines Indizienbeweises - zum Tode verurteilen zu müssen. Mit ihm litt die ganze Familie. Auch, nachdem der Urteilsspruch ergangen war, ließ sich der Täter zu keinem Geständnis bewegen. In der Nacht, als das Todesurteil vollstreckt werden sollte, lag die ganze Familie buchstäblich auf den Knien, um für den Mörder zu beten. Dann hörte man unten die Haustüre sich öffnen. Der Staatsanwalt, der im gleichen Haus wohnte, war von der Hinrichtung zurückgekehrt, bei der er von Amts wegen anwesend sein mußte. Er war totenbleich, als er im Treppenhaus den Mitgliedern unserer Familie begegnete. Er konnte berichten, daß der Delinquent in letzter Minute gestanden hatte.
Der Großvater hatte viel Familiensinn und war bei allem Ernst der Lebensauffassung im Grunde seiner Seele von heiterer Gemütsart.
Nicht selten konnte man die Familie zu froher Gesangesgemeinschaft vereint sehen, den Vater am Klavier, Mutter und Töchter daneben als Chor der Engelein. Die Gedichte, die der Großvater als Begleitung zu den Geschenken verfaßte und mitgab für die gute Tante Lisette Esser in Rödingen zu ihrem Namenstag am 19. November, verrieten viel von solchem manchmal an Übermut grenzenden Frohsinn. Großvater hing sehr an dieser Schwester seiner Mutter, die ein sehr liebenswertes altes Fräulein gewesen sein muß.
Eine Begebenheit hat unsere Mutter mehrfach erzählt, und sie ist mir in Erinnerung geblieben, weil sie so sehr bezeichnend ist für Großvaters Redlichkeit, die bis ins letzte ging. Die Geschichte mag sich in der Zeit in Saarbrücken zugetragen haben.
Vor dem Haus, in dem die Großeltern wohnten, wurden Straßenarbeiten durchgeführt. Man hatte da Pflastersteine aufgeschüttet. Großmutter war gerade dabei, in einem Faß Sauerkraut einzumachen. Einige Pflastersteine zur Beschwerung des Faßdeckels kamen ihr gerade zurecht. Irgendwie kam Großvater dahinter, was geschehen war. Er bestimmte sofort, daß die Pflastersteine an ihren Ort zurückgebracht wurden, was dann die Hausmagd besorgte. Großmutter, die aus einer kaufmännisch eingestellten Familie stammte und die Sache nur von der praktischen Seite gesehen hatte, hatte für so viel Redlichkeit zunächst kaum Verständnis. Für Großvater aber ging es um das Prinzip. Auch nicht im Kleinsten schien es ihm erlaubt, sich an öffentlichem Eigentum zu vergreifen."