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21. Jahrhundert -> 2013 Dreißig Minuten

Dreißig Minuten

oder:

Wie die Quantenphysik mein Leben beinflußt hat

 

 

Um 20 vor vier rollt mein Zug in St. Wendel ein. Eigentlich sollte er schon um halb vier ankommen, d.h. er wäre auch, wenn er gefahren wäre. Wir standen schon auf dem Gleis, und ich befürchte, dort steht er jetzt immer noch. Irgendetwas ist passiert, zwei Minuten bevor wir losfahren sollen. Der Lokführer ist mit der Stewardess nach vorn geeilt, d.h. nein, der Triebwagenführer eilte nach vorn in Begleitung der Schaffnerin, d.h., so heißt die Dame ja auch schon lang nicht mehr, also eilte der Triebwagenführer (ein Schelm, wer bei den Wortbestandteilen Böses denkt) mit der Zugbegleiterin nach hinten – und ward nicht mehr gesehen (oder so). Das dauerte wohl etwas länger, irgendwann erreichte uns das Wort, daß wir besser auf den Eilzug ausweichen sollten, der führe vor. Aber das machten wir nicht, wir benutzten statt dessen den Regionalexpress. Und der kommt mit den üblichen fünf Minuten Verspätung (das könnte die Bahn eigentlich in den Fahrplan mitaufnehmen, denn daß der mal pünktlich fährt, ist wohl eher die Ausnahme) in St. Wendel an.

 

In St. Wendel habe ich dann ein Auto gefunden, das steht auf dem Parkplatz zwischen den anderen und langweilt sich, weil niemand damit fahren will. Die Originalfarbe ist wohl mal blau gewesen, aber durch das momentane Aprilwetter, das die Temperatur mal nach oben, mal nach unten schnellen läßt, wobei sich die Decke des Parkplatzes resp. deren Konsistenz den Temperaturen anpaßt, (keine Panik, denn schon geht der Satz weiter, der hinter „Aprilwetter“ mit einem Komma unterbrochen wurde) ist sie nur noch im oberen Teil blau, im unteren eher braun. Nicht kack-, sondern schlammbespritzt-braun. Die Form des Wagens muß mich angesprochen haben, vielleicht auch die lautmalenden Zeichen, die draufstehen (auch wenn die Handlung in der Vergangenheit spielt, stehen die Zeichen immer noch auf dem Auto, denn sie sind aufgeklebt, aber – warten Sie einen Moment … ein Blick aus dem Fenster, ja, sie sind noch drauf!), ich zücke jedenfalls meinen Schlüssel und – oh Wunder! – er paß. Er entsperrt das Auto, entschlüsselt die Startsequenz, und der Motor springt und zwar an. Sofort erzählt Lloyd James (das doppelte „L“ kann man im deutschen ingorieren, vor allem, wenn man kein Englisch kann; d.h. ausgesprochen wird es schon, aber halt wie ein normales „L“) von Blackstone Audio Books (ein amerikanischer Hörbuchverlag, der u.a. Robert Heinleins Romane vertont) die Geschichte von Thorby weiter, der als Kleinkind von Basil dem Krüppel auf Jubal gekauft und erzogen wurde. Nach Basils Tod – er wird als Spion enthauptet – wurde Thorby von Kapitän Krausa auf der Sisu und in die Schiffsfamilie aufgenommen, weil Schulden nun mal bezahlt werden müssen. Momentan hat das Schiff Villanova angelaufen, und Thorby überlegt, ob er das Schiff verlassen soll. Die Matriachin, Großmutter Krausa, wird in ein paar Minuten sterben. Das hat Lloyd James schon angekündigt, und bald ist es soweit. So habe ich das jedenfalls mitgekriegt, denn er liest auf Englisch, und Heinleins Romane – auch die Jugendromane – wurden damals in den 19hundertfünfzigern für die amerikanische Jugend geschrieben. Alles verstehe ich nicht, aber ich habe vielleicht den Vorteil, daß ich vor 30 Jahren den Roman schon mal gelesen habe, damals auf Deutsch. Wie er heißt? „Citizen of the Galaxy“ – „Bewohner der Milchstraße“. Oh, die Sizu ist natürlich ein Raumschiff, und das ganze spielt in tausend Jahren. Oder so.

 

 

Lloyd James erzählt also immer weiter, während ich langsam mit meinem Auto durch die Schlaglöcher des Angelschen Parkplatzes Richtung Straße holpere. Moment, Moment, ich beschwere mich nicht, schließlich darf ich hier umsonst parken, da kann der Parkplatz ruhig Scheiße aussehen und Scheiße der Boden beschaffen sein. Mit Eis und Schnee, wenn’s geschneit hat, und Matsch und Riesenpfützen, wenn’s taute. Und so weiter, immer schön im Wechsel.

 

Ich fahre den restlichen Tholeyerberg runter, komme gut an den Ampeln vorbei und rumpele über die Beethoven- in die Bahnhofstraße hinein. Den dicken gelben Strich wie immer mißachtend, nicht aber die Autos, die von Süden kommend, einbiegen, suche ich mit den Augen einen Parkplatz vor der Post, und als ich keine finde, weil dort die Autos relativ kreuz und ziemlich quer stehen, parke ich unmittelbar davor auf dem hinteren Bürgersteig vor dem dicken Stein zwischen Briefkästen und Straße. Und beginne auszuladen. Knapp 300 Büchersendungsumschläge wollen versandt werden, d.h. sie wollen nicht, aber ich will, daß sie werden. Verpackt in Kisten, frankiert und adressiert sind sie, jetzt soll die Post den Rest erledigen. Die Angestellten drinnen kennen das Spiel schon, das wir alle drei Monate spielen, wenn ich mit den Umschlägen komme, um das Vierteljahrsheft der Arbeitsgemeinschaft für Saarländische Familienkunde (ASF, Name von der Redaktion nicht geändert) zu versenden. Mit der dicken Jacke und dem Schal komme ich zwar ins Schwitzen, aber sonst klappert das gut wie immer. Vorn im Eingang bemerke ich eine Frau auf dem Boden sitzend, augenscheinlich schlafend. Direkt neben ihr steht ein schwarzer Rucksack, hm, „carrying her home in two carrier bags“. Die Zeile stammt aus dem Lied „Streets of London“ (sprich: „S-trieds off Landn“), das ich in den 1970ern kennenlernte. Darin geht es um die Penner, die sich in London herumtreiben, Namenlose, die alle einen Namen tragen und ihre Geschichte mit sich herum. Die aber niemanden interessiert.

 

Als die Postangestellte mir die Kisten durch die Seitentür reicht, bemerkt auch sie die Frau auf dem Boden. Sie tritt hinzu und spricht sie an. D.h. ich sehe, wie sie sich hinabbeugt, dann höre ich ein Rascheln, dann eine schrille, agressive Stimme, die sich unangenehm gegen die der Angestellten abhebt. „Was wollen Sie? Lassen Sie mich in Ruhe. Ich will hier nur sitzen.“ Die Angestellte bleibt ruhig, dafür beneide ich sie, auch als die Dame (okay, okay, das war ein Euphemismus) auf dem Boden (das stimmt, denn dort saß sie) ihre Stimme mehr und mehr erhebt und immer schriller wird. Und agressiver. „Ich vertrage die Luft draußen nicht, die ist so schlecht.“ „Aber sie ist besser als hier drin!“ Als die Angestellte merkt, daß sie nicht weiterkommt, gibt sie der Bodendame noch eine halbe Stunde, dann droht sie ihr, die Polizei zu benachrichtigen. Mit der Drohung wär ich wohl schon vorher gekommen. Andererseits – wo soll sie hin? Dreckig ist sie nicht, grau, ja, einfache Kleidung, aber sauber. Aber welche Möglichkeit haben Leute, die auf der Straße leben, in St. Wendel – vor allem freitags mittags um kurz vor vier? Haben Sie eine Idee?

 

Draußen vor der Tür am Auto treffe ich auf Herrn Kreuz (Name ggf. von der Redaktion geändert), den ich nach einer bestimmten Name frage, die ich vor kurzem in der Saarbrücker Zeitung wiedererkannt habe. „Ach“, meint er, „es gibt 6,1 Milliarden Nasen auf der Welt! Da ist die Auswahl groß.“ Und lacht mich an. Er war gestern in der Zeitung, weil man ihm einen Verdienstorden verliehen hat – er hat sich vor Jahren jahrelang bei einem pfälzer Bistum in der Telefonseelsorge engagiert. Ich erkundige mich nach dem Wohlbefinden seiner Frau, die sich ein paar Tage vor Fastnacht die Hand gebrochen hat. Wir unterhalten uns noch ein paar Minuten, dann springe, nein, steige ich wieder in meinen Wagen und versetze ihn ein paar Meter weiter nach Osten, aus der Grauzone „vielleicht darf ich hier parken, aber ich weiß es nicht genau“ in die relative Grauzone „hier darf ich eine Stunde stehen, aber es wird sicher länger“.

 

Direkt vor der Kreissparkasse finde ich einen Parkplatz, d.h. direkt davor eigentlich nicht. Vor dem Modegeschäft Werner Wagner (Name von der Redaktion nicht geändert) beginnt ein Halte-Streifen, wo man sein Auto mit Parkscheibe eine maximale Zeitlang parken kann. Ein Parkverbotsschild regelt den Bereich davor, zu dem übrigens auch die erste Grauzone gehört, von der ich eben schrieb. Der Halte-Streifen reicht die Bahnhofstraße hinab über die Brücke über die Blies hinweg bis zur Gebäudegrenze zwischen „Bank 1 Saar“ und Kreissparkasse. Dort sieht man quer über die Straße einen dicken weißen Strich, wo die Autos halten sollen, wenn die Fußgängerampel auf „rot“ geht. An diesem dicken weißen Strich endet auch der Haltestreifen, was durch ein erneute Parkverbotsschild angezeigt wird, dessen Pfeil dem weiteren Verlauf der Bahnhofstraße folgt. Dort direkt vorne dran ist Platz für einen weiteren Wagen, und diesen fülle ich mit meinem Auto auf. Sitze noch einen Moment dort und sinne über ein Geschehen nach, das vor gut 14 Tagen hier passierte – Sie erinnern sich? Ich habe darüber geschrieben: da hatte ein junger Fahrer sein Auto mit laufendem Motor in der Parkverbotszone vor der Kasse abgestellt und war sorglos weggegangen, mich in der Versuchung zurücklassend, mal schnell einzusteigen und das Auto woanders in der Stadt abzustellen. Was ich nicht gemacht habe, nur drüber nachgedacht hatte ich. So sitze ich also jetzt hier und denke darüber nach und muß grinsen bei dem Gedanken, was daraus alles hätte entstehen können – als plötzlich ein kleines weißes Auto genau dort hält, eine relativ junge Frau demselben entsteigt und in der Sparkasse verschwindet. Ich springe aus meinem Auto, sperre ab und sehe zu, daß ich von dort fortkomme – oh Herr, führe mich nicht dauernd in Versuchung!  

 

Ich betrete die Buchhandlung Klein und Papier, äh, nein, Buch und Papier Klein, so rum stimmt’s (Name von der Redaktion auch nicht verändert), um im hinteren Teil am Kopierer zwei Scans durchzuführen. Das mache ich normalerweise zu hause, aber die Papiere, die ich scanne, sind A3 groß und passen nicht auf meinen Scanner. Für den Scan bezahlt man genausoviel wie für eine Kopie. Das ist okay, der Preis entspricht dem, was ich dafür ausgeben will, vor allem, wenn ich bedenke, was ein anständiger A3-Scanner kostet.

 

Ich begebe mich nach vorne und komme im vorderen Teil des Geschäfts mit einer der Beraterinnen-Verkäuferinnen-Buchhändlerinnen ins Gespräch, die mir ab und an ein Buch empfiehlt, was ich ihr meist mit gleicher Münze zurückzahle. Den Namen der Dame gebe ich nicht wieder oder ändere ihn gar ab, zum einen, weil ich nicht möchte, daß sie Ärger kriegt, weil sie sich mit mir unterhält statt „was ze schaffe“, zum anderen, weil er mir nicht mehr einfällt. Ich erzähle ihr von dem neuen „Jack-Reacher“-Roman („Outlaw“, englischer Titel (ich weiß, „outlaw“ = Geächteter ist auch Englisch, aber so heißt der Roman nun mal auf … ähm … Denglisch) ist „nothing to lose“ (sprich: nassing tuh luus) = „nix zu verlieren“), der mir sehr gut gefallen hat, im Gegensatz zu seinem stereotypen Vorgänger, den ich furchtbar fand und der mich zu dem Entschluß führte, von Lee Child keine Romane mehr zu lesen. Nun, der Klappentext klang interessant, weshalb ich von meinem Beschluß Abstand nahm – Jerres, was interessieren mich schon meine Entschlüsse von vorgestern. Bin doch ein freier Mensch (was auch immer das heißen mag). Madame kontert mit einer Frage zu einem anderen Roman, dem „Washington Dekret“ von Jussi Adler Olsen, das wir – wie wir feststellen – beide gelesen und von dem wir auch so ziemlich die gleiche Meinung haben: mal spannend, mal nicht so sehr, und so geschrieben, daß sich einem der Eindruck aufdrängt, der Autor habe keine Ahnung, wie man einen Roman vorantreibt, und der vor allem – so wie es aussieht – noch nie in Amerika war.

 

Wie wir also parlieren, kommt ein junges Mädchen zur Tür herein, spricht sie an und fragt, wo denn die Toilette sei. Das ist nicht so einfach zu erklären. Die Toilette beim Klein liegt im Obergeschoß – von uns aus gesehen, die wir nach Süden schauen – auf der linken Seite, also global gesehen im Osten. Jetzt geht die Treppe ins Obergeschoß direkt nach Süden und dreht dann auf dem ersten und einzigen Absatz um 180 Grad nach Norden, so daß man mit Blickrichtung nach Süden losmarschiert und mit Blickrichtung nach Norden ankommt. Sag ich also, die Toilette läge links, dann ist das – wenn ich oben ankomme – rechts. Sag ich aber rechts, dann könnte das gut sein, daß in heutigen Zeiten, wo kaum noch einer richtig und die meisten eher nur mit einem Ohr hinhören, am oberen Ende der Treppe die Entscheidung getroffen wird, daß „rechts“ „links“ sein muß, weil man es mir unten sagte und daß die definitiv ältere Dame, sprich: älter als die junge, die dringend aufs Töpfchen muß, sich vermutlich vertan hat.

 

Egal, wie sie sich entschieden hat, andererseits aber das Ergebnis nicht abwarten wollend, entscheide ich mich für eine Lösung à la Schrödingers Katze – kennen Sie? Ein älteres Experiment respektive Theorem: da ist ein Behälter, darin sitzt eine Katze. Der Behälter ist zu, die Katze lebt. Vorn im Behälter ist eine Giftgaskapsel, verschlossen durch eine Schloß aus radioaktivem Material, das langsam, aber sicher zerfällt, und dessen Halbwertszeit unbekannt ist. Ob die Katze noch lebt oder nicht, erfahre ich dadurch, daß ich die Kiste öffne. Solange ich das nicht tue, weiß ich nichts über ihren Zustand. Und da ich nicht sagen kann, ob sie lebt oder nicht, existiert die Katze für mich nicht.

 

Ich verlasse die Buchhandlung, ohne also zu wissen, ob die junge Dame die Toilette gefunden hat oder ob sie ins Bücherregal, nun ja …  denn für mich hörte sie auf zu existieren, als sie im oberen Teil der Treppe meinen Blicken entschwunden ist.

 

Obgleich aber die Handlung in einem Buchladen, nicht in einem Schuhgeschäft ihren Höhepunkt fand, liegt hier - wie mir scheint - ein höherer Fall von Quantenphysik vor.

 

Ich mag mich irren.

 

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So oder so ähnlich geschehen am Freitag, 22. Februar 2013, endend um 16.10 Uhr.

 

Niedergeschrieben am Freitag, dem gleichen, und Samstag, dem folgenden Tag, im Cafe am Brunnen unter Iwans wachsamen Augen und bei zwei Tassen Cappuchino und einem Stück Käsekuchen.

 

Der Tempus des Artikels sollte in der Gegenwart liegen, was die Haupthandlung betrifft. Beim Gegenlesen fiel mir auf, daß ich ein paar mal recht munter zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her wechselte, was ich beim Korrekturlesen dann abzustellen mich bemühte. Hoffe, es ist mir zur Gänze gelungen, was sicher nicht der Fall ist. Ich bitte um Ihre gnädige Nachsicht.

Historische Forschungen · Roland Geiger · Alsfassener Straße 17 · 66606 St. Wendel · Telefon: 0 68 51 / 31 66
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