Über die katholische Pfarrkirche von St. Wendel.
Mitten in St. Wendel liegt der Wendelsdom. So wird die Kirche schon seit über 100 Jahren genannt. Dabei weiß hier jeder, daß es sich nicht um einen Dom handelt. So wie der Hunnenring nicht von Hunnen erbaut wurde. Und ein Cousin meiner Mutter nicht Jürgen hieß, sondern Georg, obwohl ihn alle Welt als Jürgen kannte.
Warum die Kirche so genannt wurde, liegt auf der Hand. Denn „Dom“ ist nicht im kirchlichen Sinne zu sehen. Dort ist ein „Dom“ die Eigenkirche des Bischofs - wie etwa in Trier oder in Speyer. Hier in St. Wendel wohnt kein Bischof - die Kirche heißt so wegen ihrer erfurchtgebietenden Größe. Auch wenn sie im Vergleich zu anderen Gebäuden nicht sooo groß ist, es sind aber keine anderen größeren Gebäude in der Nähe, an der sie gemessen werden könnte. Und deshalb wirkt sie so riesig. Auch andere Kirchen tragen diesen Namen - die Kirche in Bliesen ist der Bliestaldom und die in Nonnweiler der Hochwalddom. Selbst der Felsendom in Jerusalem ist kein Dom; er ist nicht einmal eine christliche Kirche. Oder nehmen Sie den Petersdom in Rom - der viel mit unserer Kirche gemeinsam hat, wenn er auch um ein vielfaches größer ist. Beide wurden über einem Grabmal erbaut, beide im ausgehenden Mittelalter auf einem Vorgängerbau. Beide sind keine Bischofskirchen, aber beide tragen den Ehrentitel „basilika“ - „klein“ (minor) bei uns, „groß“ (major) in Rom, was beide zu Papstkirchen macht - und das ist ne Ecke mehr als jeder Dom.
Man sagt, Schönheit läge im Auge des Betrachters, und wenn wir über unsere Kirche mitten in der Stadt sprechen, sind wir befangen, wenn wir sagen, sie ist schön. Aber das sagen alle Leute, die sich ihr nähern. Von der Bahnhofstraße her sieht man sie über den Dächern der Häuser aufragen, ihr wuchtiges, dreigeteiltes Westwerk mit der barocken Haube in der Mitte und den kleineren Kugeln darüber, flankiert links und rechts von den hohen Spitzen der Seitentürme, die sich an die Mittelkonstruktion anlehnen, ja geradezu anschmiegen.
„He, die sind ja ganz krumm“, sagt einer und lacht. „Die sind nicht krumm“, sagt ein Architekt, der die Situation vor Ort genau erkundet und festgestellt hat, daß Seiten- und Mitteltürme eine starre Einheit bilden, die sich selbst trägt und stützt. Da hat sich der Meister Andler vor fast 300 Jahren etwas dabei gedacht, als er diese Konstruktion errichtete.
Wie alt denn die Kirche sei, wollen die Leute wissen, und das gerade ist die Frage, die so leicht nicht zu beantworten ist. Aus der Zeit des Kirchenbaus selber, dem 14ten und 15ten Jahrhundert, haben wir keine schriftlichen Unterlagen, die sich darauf beziehen. Wir haben jede Menge Papier, in der Hauptsache Schenkungen an die Pfarrei, aber da steht nichts über den Bau drin. Erst 250 Jahre nach dem mutmaßlichen Beginn schreibt ein Trierer Mönch etwas auf, und seine Jahreszahlen passen überhaupt nicht zu den Zahlen, die wir über die Dendrochonologie, das Bestimmen der Fälljahre der Bäume, aus denen die Dachkonstruktion besteht, wissen [Quelle: Amt für Kirchliche Denkmalpflege, Trier, Ordner „St. Wendelin“, Schreiben v. 15.10.2009].
So soll die Kirche schon 1360 fertig geworden sein, denn in dem Jahr soll sie geweiht worden sein. Dabei wird eine Kirche gar nicht geweiht, sondern eingesegnet. Ein Altar wird geweiht, u.a. in dem man eine Reliquie darin einsetzt. Schriftliches gibt es zu der Weihe von 1360 nicht, aber interessant ist, daß wir zu diesem Jahr mehrere Ablaßbriefe haben. Irgendetwas war damals, aber was. Vielleicht hat sich Christian Brouwer - so hieß der Trierer Mönch - um 100 Jahre vertan [Quelle: Christoph Brouwer, Antiquitatum Et Annalivm Trevirensivm, Hovius, 1670, Seite 232 u li]. Denn 1460 war die Kirche fertig. Das paßt aber nicht zu den Dokumenten. Brouwer gibt nicht an, woher er seine Weis- oder Wahrheiten hat. Vielleicht kannte er die - heute verschwundenen - Dokumente; vielleicht gab es dazu eine Legende, und er hat daraus auf das Jahr geschlossen. Das bleibt alles Spekulation.
Die Kirche hatte einen Vorgängerbau, das ist sicher, denn schon im 12ten Jahrhundert werden Geistliche aus St. Wendelin genannt [Quelle: Reichsarchiv München, Bipontina I, 127, Goerz, MRR KK, 127]. Das kann nicht die Magdalenenkapelle gewesen sein, die immer wieder einmal als erste Wendelskirche in St. Wendel ins Spiel gebracht wird. Denn schon 1318 - lange vor dem Bau der heutigen Kirche - wird in einer Ablaßurkunde zwischen der katholischen Kirche und der Magdalenenkapelle deutlich unterschieden [Quelle: Landeshauptarchiv Koblenz, 1 A 3586].
Zwischen 1326 und 1328 kaufte Erzbischof Balduin in seiner Funktion als Kurfürst zahlreiche Häuser und Ländereien rund um diese Vorgängerkirche; die Kirche selber kaufte er nicht. [Quelle: Landeshauptarchiv Koblenz, 1 A 4648, 1 A 4665, 1 A 4664, 1 C 11314, 1 C 1]
Die Kirche gehörte ebenso wie die Pfarrei, der sie diente, weiterhin zum Bistum Metz. Brower schreibt nun, daß der Bischof Boemund, Balduins Nachfolger, mit den St. Wendeler Bürgern die Kirche baute. Aber Boemund war der Chef des Bistums Trier, wieso soll er im Bistum Metz eine Kirche gebaut haben, auch wenn Metz ein Unterbistum von Trier war? Das geht dann, wenn die Metzer auf die Pfarrei St. Wendel keinen Wert mehr legten und es ihnen quasi egal war, was die Trierer damit anstellten. Das mag für spätere Ereignisse durchaus eine Rolle spielen.
Andererseits wollten die Trierer St. Wendel fördern, was man daran sieht, daß sie der Stadt im 14ten Jahrhundert ein Marktrecht gaben und den Bürgern erlaubten, sie mit einer großen Stadtmauer zu umgeben (die angebliche Verleihung der Stadtrechte 1332 ist eine Fehlinterpretation eines örtlichen Heimatforschers) [Quelle: Landeshauptarchiv Koblenz, 1 A 4747].
Was liegt also näher, als vorhandenes Wirtschaftspotential zu fördern?
Die Wallfahrt zum hl. Wendelin war in den vergangenen Jahrhunderten so stark gewachsen, daß der Name des Heiligen mit der Zeit den alten Namen des Ortes übertönt hatte - aus Bosenweiler war St. Wendel geworden. Nun heißt die Devise für alle, die auf sich aufmerksam machen wollen: „nicht kleckern, sondern klotzen“. D.h. daß die Kirche, die bisher die Reliquie berherbergt hatte, durch eine viel größere, viel imposantere ersetzt werden mußte.
Wir wissen weder, wer den Umbau, der im Laufe der Zeit fast einem Neubau gleichkam, plante, wer ihn durchführte, und schon gar nicht, wer ihn bezahlte. Romane wie Ken Follets „Säulen der Erde“ mögen uns Anregungen dazu geben, dokumentiert ist nichts. Allenfalls könnten uns die Steinmetzzeichen in den Steinblöcken Auskunft geben, aber bisher konnte die Identität der Handwerker noch nicht wirklich festgestellt werden.
Vielleicht hat Trier ja wirklich den ganzen Spaß bezahlt, und Brouwer bezieht sich darauf. Es bleibt unbekannt.
Begonnen wurde jedenfalls in der ersten Hälfte des 14ten Jahrhunderts. Das Turmwerk im Westen bestand im wesentlichen aus den heute dort noch existierenden Mauern und Kammern. Der Eingang in die Vorgängerkirche wird in der sog. Taufkapelle in der Nordwestecke der Kirche vermutet, und jüngst hat sich herausgestellt, daß ein dort über der Tür verlaufendes Spruchband auf das Jahr 1300 zu datieren ist. Im Treppenturm gegenüber (Südwestecke) finden sich Fenster nach Osten, die heute entweder in den Kircheninnenraum führen oder als Türen verwendet werden. Sie deuten auf eine Zeit hin, als der Raum östlich des Turms noch unbebaut war. Der heutige große Haupteingang existierte damals noch nicht; das Tor stammt aus dem frühen 16ten Jahrhundert.
Zunächst blieb das romanische Mittelschiff unangetastet, was sinnvoll ist, denn schließlich sollte die Wallfahrt während der Bauzeit, die sich erfahrungsgemäß über mehrere Generationen erstreckte, nicht unterbrochen werden. Am östlichen Ende des heutigen Schiffs wird der romanische Chor abgerissen und im Laufe der nächsten Jahrzehnte durch den neuen gotischen Chor ersetzt.
Vielleicht wurde deshalb die Reliquie während dieser Bauphase, als die Kirche nach Osten offen war, aus aus der Kirche in die Magdalenenkapelle übertragen. Im Jahr 1318 befand sie sich jedenfalls in der Kirche, was aus der schon genannten Ablaßurkunde von 1318 zu erkennen ist. Brouwer nennt 1360 als das Jahr, in dem die Reliquie aus besagter Kapelle in die Kirche übertragen wurde und zwar nicht lange nach der Weihe. Das widerspricht sich nicht.
Lassen Sie uns mutmaßen:
Um 1340 beginnt die Baumaßnahme. Der alte Chor wird abgerissen; die Reliquie wird in die Magdalenenkapelle gebracht; dort steht sie unten in der Krypta. Über dem Sarg oder Grab wird die Tumba aufgestellt, die nach vorsichtiger Schätzung ins 14te Jahrhundert datiert. Gut 20 Jahre - eben 1360 - später ist der alte romanische Chor verschwunden, die Fundamente für den neuen Chor sitzen, und zwischen neuem Chor und altem Schiff hat man eine Mauer errichtet, die das Schiff nach Osten abriegelt. Der Altar im alten Schiff wird eingeweiht und die Reliquie wieder in die Kirche übertragen.
Gut 40 Jahre später wird der Chor fertiggestellt - das zeigen die Dendrochronologieproben. Die Reliquie wird vom Schiff in den Chor übertragen, der von der bisherigen Baustelle im Chor immer noch durch die Mauer geschützt wird. Nur wechselt jetzt die Baustelle auf die andere Seite. Ein wiederholter Transfer der Reliquie in die Krypta der Magdalenenkapelle ist nicht sinnvoll, denn im neuen Chor ist mehr Platz für Pilger als unten in der Krypta.
Der romanische Chor wird niedergelegt und der gotische aufgebaut - im oberen Teil erst der nördliche, 20 Jahre später der südliche Teil. Die Fertigstellung erfolgt um das Jahr 1460. Die Mauer zwischen neuem Chor und neuem Schiff wird nicht abgerissen, sondern bleibt noch einige Jahre als Lettner stehen. Natürlich wird eine Verbindung zwischen Chor und Schiff gebrochen. Die Reliquie befindet sich im Chor und bleibt auch dort.
Zwischen Baubeginn und -ende liegen gut 120 Jahre. Das schreibt sich so, wir jonglieren mit den Jahren vergangener Jahrhunderte, als wären es nur Zahlen, aber es sind Jahre, die so lange waren wie die unseren heute. Auf heute umgelegt hat der Bau von der Erhebung der Reliquie im Jahr 1896 bis ungefähr heute gedauert. Das ist eine lange Zeit, in der vier Generationen geboren wurden, von denen zwei schon nicht mehr leben.
Der Umstand, daß die Reliquie sich einmal in der Magdalenenkapelle befand und von dort in die Pfarrkirche überführt wurde, hat zu mancherlei Legenden in unserer Stadtgeschichte geführt. So wird die Magdalenenkapelle bis zum Umbau zu einer Schule im Jahre 1800 als „Wendelskapelle“ bezeichnet, was immer wieder zu allerlei Verwirrungen gesorgt hat.
Dann hat irgendein Spaßvogel das genaue Datum der Übertragung der Reliquie von der Kapelle in die Kirche auf den Pfingstmontag 1360 gesetzt. Nun ist das Pfingstfest neben dem Hochfest des Heiligen am 20. Oktober (ursprünglich am 21ten Oktober) einer der beiden Höhepunkte der Wallfahrt im Jahr, weshalb dieser Tag wohl gewählt wurde, obwohl er eigentlich kein Feiertag war [was u.a. dazu geführt hat, daß an den Tagen nach den Festen jeweils die Opferstöcke in der Stadt geleert wurden, weil an diesen Tagen dort das meiste Geld hereingeworfen wurde. Das hat eine systematische Durchsicht der Kirchenrechnungen im hiesigen Pfarrarchiv ergeben, die ich 2016 vorgenommen habe.]. Daraus resultiert das sog. „Wendelskuchenfest“, das am 5ten Juli gefeiert wird, weil am 5ten Juli 1360 angeblich Pfingstmontag war. War er aber nicht - Pfingstmontag war 1360 am 23ten Mai.
Um 1460 ist Nikolaus von Cues noch Pfarrer der Kirche bzw. Eigentümer dieser Pfründe, und er bezieht schon seit bestimmt 20 Jahren sein Salär daraus.
Und es fragt sich, welches Interesse das Bistum Metz noch an und welchen Nutzen es noch aus dieser Pfarrei hat. Der Kirchensatz liegt schon seit über 100 Jahren beim Bistum Trier, eigentlich schon seit Balduins Zeiten. Und wie oft und wie lange „herrschte“ in der Pfarrei ein sog. Kommendatarpfarrer, d.h. ein Geistlicher, der sich nicht hier aufhalten, sondern nur für die Betreuung der Gläubigen sorgen muß und während dessen als Pfründeninhaber alle Einkünfte kassiert.
In dieser Zeit geht das Bistum Metz finanzmäßig leer aus: Otto von Ziegenhain, der spätere Trierer Kurfürst, ist 1427 an dieser Stelle [Quelle: Landeshauptarchiv Koblenz, 1 A 3614, 27.03.1427], nach seinem Tod 1430 gefolgt vom Trierer Weihbischof Johannes de Monte, der 1442 stirbt. Und dessen Nachfolger bis 1464 ist Nikolaus von Cues, vermutlich direkt nach de Montes Tod. D.h. seit kurz nach 1400 hat das Bistum Metz aus der Pfarrei St. Wendelin keinen roten Heller mehr gesehen. Es ist zwar noch „Eigentümerin“ der Pfarrei und kann notfalls durchsetzen, daß nach seinen Gesetzen dort verfahren wird, aber es hat keinerlei Nutzen mehr davon. Und wird auch keinen mehr davon haben, denn der Nachfolger von Cusanus per Dekret ist der Trierer Erzbischof und Kurfürst Johann II von Baden, und mit ihm wird der Übergang von Metz an Trier als vollzogen betrachtet (interessanterweise ist der Metzer Bischof ein Bruder des Trierer Erzbischofs).
In den Jahren zwischen 1461 und 1464, als man per Dekret dabei ist, Cusanus als Pfründner abzusägen, hat er wohl die Wappen an der Decke anbringen lassen. Mit ihrer Hilfe zeigt er nicht nur, wie die damalige Welt im Heiligen Römischen Reich funktionierte - auf der einen Seite die Kleriker, also Papst, Bischof und Priester, auf der anderen die „Politiker“, also Kaiser, Kurfürsten und Amtmann -, sondern wies auch - z.B. durch die nicht standesgemäße Positionierung verschiedener Kurfürsten - auch bestehende Mißstände im Reich hin. Es ist nicht sicher, ob die Wappen wirklich auf Initiative des Cusanus enstanden, aber wer außer ihm hätte die Idee gehabt, so etwas der breiten Öffentlichkeit zu präsentieren - ein Politiker wie der amtierende Kurfürst sicher nicht. Aber Nikolaus von Cues in seiner Rolle auf Aufklärer schon.
In diesem Zusammenhang ist wohl auch die Steinkanzel zu sehen, die einer Inschrift zufolge im Jahre 1462 im nördlichen Teil des Schiffs an der zweiten Säule von Osten her aufgehängt wurde. Ignoriert man den Himmel, der keine 200 Jahre alt ist, hat man von der Kanzel aus einen ausgezeichneten Blick auf die Wappen an der Decke darüber. Und tatsächlich entsteht durch die Gestaltung der der Kanzel gegenüberliegenden Ränder der Wappen, die breiter und dunkler gemalt sind als die anderen, der Eindruck, als wendeten sie sich der Kanzel unten zu. Auf der Kanzel sind die Wappen des Cusaners, des Erzbistums bzw. Kurfürstentums Trier und des amtierenden Kurfürsten resp. Erzbischofs Johann II von Baden zu sehen. Auch hier muß die Urheberschaft für Cusanus vermutet werden, sie liegt m.E. nahe.
Was damals genau gelaufen ist, weiß heute niemand mehr … hm „wirklich“. Im Mai 1461 behauptet der Trierer de-Jure-Erzbischof („de-jure“ bedeutet, daß er zwar schon seit 5 Jahren offiziell - vom Papst ernannt - Erzbischof ist, de facto aber für das Amt noch zu jung ist; erst in 4 Jahren kann er es offiziell antreten; Kurfürst ist er schon, da gibt’s kein Mindestalter) … er behauptet also, daß er schon Eigentümer der Pfarrei St. Wendel ist (was vermutlich nicht stimmt, weil sie vermutlich noch zu Metz gehört), und so gibt ihm der Papst u.a. die Pfarrei St. Wendel in sein Tafelgut (das ist die Geldquelle, aus der er seinen Lebensunterhalt finanziert - im Gegensatz zu dem Geld, womit er seine Geschäfte führt) unter der Bedingung u.a., daß der jetzige Inhaber stirbt oder es abgibt. Cusanus ist auch grad sehr krank, und mit seinem absehbaren Ableben wird gerechnet. Aber der alte Kardinal ist zäh und überlebt u n d gibt nichts ab. Am 29. Januar 1464 macht man dann Nägel mit Köpfen: Cusanus verliert die Pfarrei, und der Trierer Erzbischof wird neuer Pfründeninhaber. Was in den zwei einhalb Jahren dazwischen gelaufen ist - weiß niemand. Cusanus muß damit gerechnet haben, daß er über kurz oder lang die Pfarrei verlieren wird. In diese zwei einhalb Jahre fallen die beiden schon genannten Projekte, von denen eins unsere Kirche einzigartig auf der Welt macht - letztgenanntes sind die Wappen, denn nirgendwo sonst auf der Welt gibt es ein politisches Programm aufgemalt unter einer Kirchendecke. Das andere ist die Kanzel, die ja augenscheinlich zu den Wappen dazugehört. Vielleicht hat Cusanus noch schnell - „jetzt gilt’s“ - Wappen und Kanzel anbringen lassen (dann hätte der Gesichtsausdruck der Engel, die die Wappen an der Kanzel halten, vielleicht wirklich eine Bedeutung.
Stellt sich die Frage, warum sein Nachfolger, dem die Wappen da an der Decke sicher nicht gefallen haben, weil sie politisch äußerst - wie sagt man heute - „unkorrekt“ waren, sie nicht entfernen ließ - nun gut, vielleicht sind sie unter ihm schon übermalt worden; bis heute weiß man nicht, wann und warum das geschehen ist.
Vielleicht hat sich der Erzbischof gedacht, er kann sie ruhig dort „hängen“ lassen, weil St. Wendel als Wallfahrtsstadt eh so unbedeutend war, daß es weder in einer der Pilgerkarten (z.B. die sog. Romwegkarte von 1500 von Erhard Etzlaub, auf der von Norddeutschland kommend alle wichtigen Wege nach Rom mit allen wichtigen Pilgerstädten eingetragen sind und auf der zwischen Trier und Saarbrücken, Kaiserslautern, Bernkastel und Creuznach nur ein großes weißes Loch prangt) noch in einem der zahlreichen Itinerare (Wegbeschreibungen, Fahrtberichte) auftaucht, so daß die Chance, daß jemand die Wappen zu sehen bekommt, ziemlich gering war (obgleich der deutsche Kaiser Maximilian den hl. Wendelin zu seinen „amici“ zählte und gleichzweimal innerhalb von vier Jahren - 1508 und 1512 - hier zu Besuch hier war und - wenn die Wappen damals noch dran waren - u.a. seinem Vater dort oben „Guten Tag“ sagen konnte).
Vielleicht aber - und das ist wie so vieles in diesem Artikel nur ein Gedankenspiel, sprich: völlig spekulatorisch - gab es hier auch einen Deal zwischen Amtsinhaber und Amtsinhaber-in-spe. Vielleicht hat Cusanus - alt, krank und müde - nicht mehr die Kraft gehabt, sich mit dem Erzbischof auf einen langen Prozess einzulassen und deshalb mit ihm vereinbart, daß er auf die Pfründe verzichtet, wenn er Kanzel und Wappen anbringen durfte. Eine solche Verpflichtung hätte Johann von Baden dann sicher davon abgehalten, Hand an die Wappen zu legen.
Über den Umstand, ob St. Wendel dabei oder dadurch von Metz an Trier kam, will ich hier nichts sagen, darüber schreibt mein Freund Matthias Gard aus Marpingen in Bamberg gerade an einer tiefergehenden Arbeit, auf deren Schlüsse und Ergebnis ich sehr gespannt bin.
Um Schulden zu begleichen, die Johanns Vorgänger Jakob von Sierck bei Nikolaus von Cues hatte, verpfändet Johann die Pfarrei am 7. Juni 1499 an den das sog. „Hospital von Kues“, das von Cusanus selbst gegründet worden ist und als dessen Rechtsnachfolger fungiert [Quelle: Nikolausstift Cues, Archiv, Regest 93]. Diese Verpfändung erlischt erst 300 Jahre später im Zuge der Säkularisierung.
Die Pfarrkirche von St. Wendel betreut die die Orte St. Wendel, Alsfassen, Breiten, Niederweiler, Baltersweiler, Hofeld, Mauschbach, Pinsweiler, Furschweiler, Roschberg, Gehweiler und Reitscheid, bis kurz vor der französischen Revolution. Dann werden die weiter entfernt gelegenen Orte Pinsweiler, Furschweiler, Roschberg, Gehweiler und Reitscheid abgetrennt und in einer eigenen Pfarrei in Furschweiler organisiert; ihre Pfarrpatronin ist die hl. Anna, die Mutter Mariens.
Aber das ist eine andere Geschichte.
Roland Geiger
Alsfassen in der letzten Juliwoche des Jahres 2017