Die Kreissparkasse St. Wendel und ihre ersten Kunden
viel Geschichte und ein bißchen Spekulation
2009 wurde die Kreissparkasse St. Wendel 150 Jahre alt und feierte dieses Jubiläum als gutgehendes und hochangesehenes Unternehmen.
Dabei sahen ihre Anfänge gar nicht so sehr günstig aus. Nach vielen Versuchen und Rückschlägen wurde am 1. Januar 1859 der Betrieb aufgenommen. D.h. von dem, was man hier landläufig unter "Betrieb" versteht, also: jede Menge Kundschaft, konnte wahrlich keine Rede sein. Der Geschäftsführer, der den Laden als Ein-Mann-Betrieb führte und sich Rendant nannte, wartete auf Kunden, und die kamen nicht. Nicht, daß in diesem ersten Monat keine Darlehen aufgenommen wurden, aber das geschah definitiv nicht bei der neuen Kreis=Spar= und Darlehnskasse in St. Wendel. Der Ackerer Jakob Messler und seine Ehefrau Anna Leist aus Marpingen gingen am 15. Januar in St. Wendel lieber zum Gerichtsvollzieher Michel Eschrich, um bei ihm Geld zu leihen, und der Schuster Johann Marx aus Breiten und seine Ehefrau Maria Arnold bevorzugten den Ackerer Nikolaus Wagner aus Oberlinxweiler.
Ob es daran lag, daß die neue Bank etwas zu sehr Offizielles an sich hatte? Schließlich gehörte sie ja der Regierung oder war von der auf jeden Fall ins Leben gerufen worden. Und wenn nicht von der Regierung, so doch von der Verwaltung des Landkreises, an vorderster Front von Landrat Rumschöttel, der höchstpersönlich Direktor dieser Anstalt war. Nicht, daß die Sparkasse teurer gewesen wäre als die anderen ? privaten ? Kreditgeber. Fünf Prozent Zinsen waren ortsüblich und schon seit Jahrzehnten auf gleichem Stand. Aber der Bauer in Oberlinxweiler und der Gerichtsvollzieher in St. Wendel stellten vielleicht nicht so viele Fragen ? und: sie waren schon seit Jahren im Geschäft. Man kannte sie und vertraute ihnen ? nun gut, bis zu einem gewissen Grad. Sagen wir so: man wußte, woran man an ihnen war. Aber die Sparkasse ? nee, wen der Bauer nicht kennt, bei dem frißt er nicht. Und er frißt schon gar nicht bei einer Anstalt, die direkt dem Landrat unterstellt ist, denn der braucht doch nicht zu wissen, was ich so mit meinem Geld anstelle. Nachher ?
So wartet der Rendant Michael Weynand in seinem Büro auf Kundschaft. Und da er einen ganzen Monat warten mußte, haben wir noch etwas Zeit, uns anzuschauen, wo dieses Büro eigentlich genau lag. Weynand mußte eine Kaution aufstellen, da er für selbstverschuldete Verluste persönlich haftbar gemacht werden konnte. Deshalb wird er sich vermutlich nie sehr weit von seiner Geldkassette entfernt haben; denn dort drin lagen gleich zu Anfang 120 Taler, die ihm nicht gehörten, für die er aber verantwortlich war. Diese Kassette war natürlich vor allem nachts "gefährdet", weshalb er sie vermutlich zuhause aufbewahrte. Aber wo wohnten er und seine Ehefrau Katharina Goebel?
Im Juni 1859 kauft das Ehepaar das Wohnhaus des vormaligen St. Wendeler Notars Friedrich Hen, das in der oberen Luisenstraße unterhalb des heutigen "Alten Rathauses" lag. Nach der vorangegangenen Theorie lag die "Schalterhalle" ab diesem Zeitpunkt demnach in dem dortigen Haus. Aber wo war sie das letzte halbe Jahr gewesen?
Weynand stammt aus Alsfassen, seine Frau Katharina aus St. Wendel. Ihre Eltern sind der Kaufmann Franz Goebel und seine Ehefrau Maria Back, die schon seit ihrer Heirat im Jahre 1834 in St. Wendel wohnen. Goebel stammt nicht aus St. Wendel, aber seine Ehefrau Maria Back. Ihr Elternhaus liegt in der Schneidergasse, heute Hospitalstraße 47. Nach dem Tode seines Schwiegervaters Josef Back hat Franz Goebel das Haus im Oktober 1850 gekauft und mit seiner Familie auch bewohnt. Leider kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, ob Michael Weynand und seine Ehefrau bis Juni 1859 hier gewohnt haben, aber wenn, dann befand sich hier das erste Lokal der Kreissparkasse St. Wendel.
So, jetzt hat Herr Weynand genug gewartet, geben wir ihm etwas zu tun. Er wird sicher nicht den ganzen Monat nur herumgesessen und Däumchen gedreht haben. Aber Anfang Februar kommt ihm ein Umstand zugute, der auch heute noch in der Zeit nach Weihnachten wieder die ersten Besucher aus den umliegenden Orten nach St. Wendel führt: der Lichtmessmarkt.
Maria Lichtmess wird traditionell am 2. Februar gefeiert und fällt 1859 auf einen Mittwoch. Unsere Oma hat uns den alten Spruch gelehrt: " Mariä Lichtmess, spinne vergess?, bei Daach se Naacht gess?". "Spinne vergess" ? das bezieht sich auf die Arbeit der Bauern im Winter, wenn die Witterung die Arbeit draußen unmöglich macht; dann saßen die Leute drinnen und spannen. Aber an Lichtmess begann das sog. "Bauernjahr", d.h. ab jetzt wurde die bäuerliche Arbeit draußen wieder aufgenommen und mit dem Spinnen hatte es mal wieder ein Ende. Abendessen gabs und gibt es heute noch um halb sechs oder sechs, und Anfang Februar beginnt die Dunkelheit etwa um die Zeit oder sogar schon später. Also ist es noch tag(hell), wenn wir das Abendbrot einnehmen: "bei Daach se Naacht gess!"
An dem Tage endete aber auch das Dienstbotenjahr, und den Mägden und Knechten wurde der Rest ihres Jahreslohnes ausbezahlt.
Der zugehörige große Markt fällt 1859 auf den darauffolgenden Donnerstag, einen Tag später. An diesem Tag treffen sich Händler, Handwerker und Bauern aus den umliegenden Dörfern und Gemeinden in St. Wendel, aber nicht nur um den Markt zu besuchen und einzukaufen, sondern auch ? und vielleicht auch vor allem ? um miteinander zu reden, Neuigkeiten zu erfahren und den gesammelten Klatsch der letzten vier Monate loszuwerden. Der letzte Markt war der große Wendalinusmarkt Ende Oktober gewesen, und während der dunklen Monate bis nach Weihnachten werden sie kaum Gelegenheit gehabt haben, die Stadt zu besuchen, schon gar nicht, wenn der Schnee hoch lag und die Temparaturen tief im Keller nur zu finden waren. Auch jetzt Anfang Februar ist es noch nicht gerade warm, aber die Aussicht auf ein Wiedersehen mit Freunden und Bekannten hat sie alle in die Stadt gelockt.
Und mit ihnen ziehen ihre Mägde und Knechte in die Stadt, um ihren Dienstherren beim Einkauf und Heimtragen zu helfen. Und natürlich um mit ihresgleichen zu sprechen.
An diesem Donnerstag gibt es etwas Neues in der Stadt, und zwar etwas, daß gerade die Gesindeleute hellhörig macht. Es gibt behördlicherseits eine neue Institution, zu der sie ihr sauer erspartes Geld bringen können, und diese Institution verspricht ihnen, darauf acht zu geben, so daß es sicher ist. Bisher ist es das nämlich nicht unbedingt gewesen. Zuhause sparten sie es in einem Strumpf auf oder unter der Bettmatratze. Gut versteckt vor Eindringlingen ? und vor dem eigenen Dienstherrn. Wie oft hatten sie schon davon gehört, daß ein Bauer nicht nur das Bett einer Magd besuchte, wenn seine Frau der Meinung war, sie hätten jetzt genügend Kinder und die sicherste Art der Verhütung ? und in unseren katholischen Landen auch die einzig erlaubte ? die war, auf jeglichen Verkehr zu verzichten, sondern sich auch an ihrem Eigentum verging. Eine offizelle Beschwerde oder gar Anzeige war da nicht drin, an wen sollten sich die Mädchen denn wenden? Die Obrigkeit, bestehend aus preußischen Beamten, die die Nase noch höher trugen als vor 20 Jahren die Coburger? Die würden sie nur auslachen und wieder nachhause schicken. Und wenn der Bauer das mitkriegen würde, wären sie gleich noch ihre Anstellung los. Das konnten sie sich nicht leisten. So gut waren solche Stellen nicht gesäht. Also blieb ihnen nur, auf die Ehrlichkeit ihrer Hausherren zu hoffen und Verstecke zu finden, die nicht so leicht aufzustöbern waren. Natürlich waren nicht alle Dienstherren so; aber wenns einem so richtig dreckig geht, wer weiß, was die Not aus den Menschen macht ?
Zwei junge Mägde aus Berschweiler und Mettweiler mögen sich in St. Wendel getroffen haben; vielleicht sind sie auch schon den mehrstündigen langen Weg durch Eis und Schnee nach St. Wendel gestapft oder kannten sich gar schon von früher her. Ein junger Mann, Knecht in Mettweiler, einem weiteren Ort im ehemals Lichtenbergischen, ist mit ihnen gekommen. Hier in St. Wendel treffen sie auf eine Leidensgenossin, die schon deutlich älter ist als sie und schon einiges mitgemacht hat. Neun Jahre zuvor hatte sie einen Sohn geboren, unehelich "natürlich", und ihn nach ein paar Tagen schon wieder verloren. Jetzt ? mit knapp neunddreißig Jahren ? ist sie eine alte Frau, müde und verbraucht. Aber immer noch am Leben und mit dem Ehrgeiz beseelt, den jungen Leuten, die sie von früheren Besuchen her kennt, einiges von dem zu ersparen, was sie erlebt hat.
Sie hat in den vergangenen Wochen immer wieder von der neuen Spar= und Darlehnskasse gehört. Sie nimmt die drei jungen Leute beiseite und erzählt ihnen von der neuen Anstalt, wo ihr Geld sicher ist vor dem Zugriff ihres Dienstherren. Und das beste hebt sie sich für den Schluß auf: die Sparkasse würde sie für das Geld, das sie dort hinterlegen, auch noch bezahlen. Fünf Prozent Zinsen würden sie im Jahr bekommen, und sie brauchten nichts dafür zu tun, als das Geld dorthin zu bringen und einfach liegenlassen. Fünf Prozent und ohne etwas dafür zu tun.
Was die jungen Leute schließlich überzeugt haben mag. Am nächsten Montagmorgen machen sie sich wieder auf den langen Weg nach St. Wendel, ihr Erspartes in der Tasche. Am oberen Tor treffen sie auf ihre Freundin Maria Marschall.
Und kaum öffnet Herr Weynand morgens seinen Laden, da stehen sie schon vor der Tür und machen ihre Einzahlungen:
Elisabeth Walter aus Berschweiler mit 30 Thalern,
Catharina Stephan aus Eckersweiler mit 29 Thalern
Maria Marschall aus St. Wendel mit 13 Thalern
und
Jacob Loch aus Mettweiler gar mit 40 Thalern.
Stolz erhält jeder von ihnen ein Sparbuch. Ein kleines Heft, in dem vom Rendanten höchstpersönlich die Summe eingetragen wurde. Ein Dokument, über das nur sie selber verfügen können.
Was muß das für ein Gefühl für diese einfachen Leute gewesen sein, einem der hohen Herrn ihr Geld zur Verfügung gestellt zu haben. Und dieser hohe Herr bedankt sich herzlich bei jedem von ihnen und verspricht, auf ihr Geld aufzupassen und es sicher zu verwalten.
So oder so ähnlich geschehen am Montag, dem 2. Februar 1859.
Und das spricht sich schnell herum. Gleich am nächsten Freitag kommen die nächsten Einzahler, diesmal alle aus St. Wendel, mit anderen Beträgen, größeren und kleineren.
Und so geht das bis heute.
Und da haben wir die Verbindung zwischen den St. Wendeler Kaufleuten und der Kreissparkasse. Denn ohne die Kaufleute und Händler hätte es keinen Markt gegeben. Und ohne den Markt würden Herr Weynand und seine Nachfolger womöglich noch heute auf ihre ersten Kunden warten.