St. Wendel, 17. September.
Die Krone ist wohl das letzte, aber auch das schönste und kostbarste Gewandsstück einer Königin. Unsere Wendalinuskirche ist seit 14 Jahren in mühsamer, beharrlicher Arbeit geschmückt und bekleidet worden. Wer es nicht mit eigenen Augen gesehen, kann sich kaum vorstellen, in welchem Zustande der herrliche Bau um das Jahr 1910 dastand. Die Außen=Mauern vom Boden bis zum Dachgesims verwittert und voll tiefer Schrunden. Das Maßwerk der Fenster und die Verzierungen der Strebepfeiler zerfallen oder herabgestürzt; die Dächer in trostloser Verfassung. Die Erinnerung an das Bild, das die Kirche in ihrem Innern bot, ist noch kaum verblaßt. Wir sehen noch die von Salpeter zerfressenen Wände, die von Ruß und Schmutz entstellten Gewölbe, den ausgetretenen Sandsteinboden, die unschöne Brüstung der Orgelbühne, die zusammenbrechenden Beichtstühle, die marterbereitenden, plumpen Bänke, das halb zerstörte Chorgestühl. - Doch was sollen wir schildern, was unsere Leser mit Trauer gesehen und erlebt haben. Gibt es doch kaum eine Pfarrgemeinde, die ihr Gotteshaus so liebt, wie die Pfarrei St. Wendel. Und darum ist es der Stolz und die Genugtuung aller Katholiken, ja aller Bürger von St. Wendel, daß die königlichen Glieder ihre Kirche jetzt wieder gesund und strahlend dastehen, daß der ihnen angetane Schmuck nach einstimmigem Urteil aller Kunstkenner und Kritiker von großer Schönheit und vornehmem Geschmack ist.
Es fehlt noch die Krone! Damit kann in einer katholischen Kirche nur der Hochaltar gemeint sein. Gewiß das Wesentliche des Altars, der aus Naturstein aufgebaute und vom Bischof gesalbte Opfertisch ist vorhanden; er bedarf noch der Verzierung der Vorderseite durch Bildwerke, deren Modellierung bereits von einem bedeutenden Künstler in Angriff genommen ist. Über den Altartisch wölbte sich in der altchristlichen Zeit und im früheren Mittelalter ein kunstvoller Baldachin, oder ein Ciborium, durch das die geheimnisvolle Opferstätte umfaßt wurde.
Im gotischen Baustil überströmt die Farbenglut der riesigen Fenster den Altar. Die Kunst stellte in diesem Lichtfülle die bilderreichen, vielerzählenden, gemalten oder geschnitzten Altarwände, die in der späteren Zeit sich erweiterten in auf klappbaren Flügeln. Die Altäre standen also breit und ausladend wie Sockel unter den hohen Fenstern, die in ihren Glasbildern die Schilderreihen aus der Heiligen Geschichte fortsetzten. Das Zeitalter der Renaissance und des Barock liebte es, den Altartisch wieder zu umstellen mächtige Architektur, mit hochstrebenden Säulen, die zusammengefaßt wurden von kolossalen Tafelgemälden und dramatisch bewegten Statuen. Eines solchen Barockaltars, und zwar eines ganz hervorragenden Werkes, in der Kirche zu St. Wendel erinnern sich noch unsere älteren Mitbürger. Eine falsch verstandene Begeisterung für absolute Stilreinheit hat zu Anfang der Neunzigerjahre dieses Kunstwerk aus unserer Kirche entfernt. Die Marmorsäulen am Portikus des Gesellenhauses sind die letzten Zeugen der entschwundenen Pracht. An die Stelle des bis zum Gewölbe ragenden, die Chorfenster zum Teil verhüllenden und mit kühner Betonung als Haupt= und Mittelpunkt des Kirchenraums sich darstellenden Altarbaues setzte man ein in Form und innerem Werk allzu bescheidenes Altärchen. Je mehr die Ausstattung unserer Kirche im Übrigen jedes Beschauer Kunstempfinden befriedigt, desto mehr enttäuscht die Bilderwand des Hochaltars. Es gibt niemanden, der nicht einen Umbau des vorhandenen Altars oder dessen Ersatz durch ein wirkliches Kunstwerk für notwendig hält. Eine leise Hoffnung auf Verwirklichung des zweiten Falles kann sich regeln, seitdem bekannt ist, daß in der Stadt Trier ein herrlicher, gotischer Altar aus besonderen Gründen zur Veräußerung kommt. Derselbe stammt in seinen wesentlichen Teilen aus dem Anfang des sechzehnten Jahrhunderts, vielleicht aus der Werkstatt des großen Albrecht Dürer von Nürnberg. Das Bildwerk dieses Altars zeigt in zahlreichen Reliefs Szenen aus dem Leben und Leiden Unseres Herrn und das Mittelstück ist ein Kalvarienberg voll lebendigster figurenreicher Darstellung. - Bevor jedoch der Gedanke den Wendelsdom mit diesem Meisterwerk zu krönen, greifbare Gestalt gewinnt, müssen einige Voraussetzungen erfüllt sein. Mit Hülfe einer Kulisse soll noch festgestellt werden, welche Wirkung die Silhouette des hohen Schnitzwerkes in dem Chorraum ausübt. Dann aber muß Klarheit geschafft werden über den Nervus, der zu allen Zeiten das Notwendige wie das Schöne beherrschte: das Geld!
Wer sich einmal ruhig überlegt, daß die Vorfahren der jetzt Lebenden im vierzehnten Jahrhundert, als die Stadt St. Wendel noch keine tausend Seelen zählte, den königlichen Bau der Wendelskirche wagten, unvollendeten trotz Pest= und Kriegszeiten, der müßte denn doch an der heutigen Menschheit verzweifeln, wenn sie nicht mehr den Idealismus aufbrächte, das Ererbte erhalten und zu krönen. Das erstere haben seit 600 Jahren St. Wendel Katholiken getan. Das zweite wäre die Aufgabe des liebenden Geschlechts. Leicht würde das Werk gelingen, wenn j e d e r Kirchenbesucher allsonntäglich auch n u r 20 P f e n n i g opfern wollte, das ergäbe an einem Sonntag fast 1000 Mark und in kurzer Zeit hätten wir unsere Kirche die schöne Krone des kunstvollen Hochaltars geschenkt. Es darf noch hinzugefügt werden, daß der Hochwürdige Herr Bischof von Trier den Wunsch hat, das Altarwerk, von dem die Rede ist, in seiner Diözese zu erhalten, und gerade die Pfarrkirche von St. Wendel für den würdigen Raum dazu hält. Es gibt endlich noch katholische Familien in der Pfarrgemeinde, die längst das Bedürfnis bitte empfinden müssen, durch eine großmütige Tat in den Spuren der Vorzeit zu wandeln.
Wohlan, schaffen wir unseren Wendelsdom seine Krone!
Eine, der die Kirche von St. Wendel sehr lieb hat.
Quelle: St. Wendeler Volksblatt, Samstag, den 18. September 1926.